Willkommen in der hyperrealistischen Hölle
In Laurent Mauvigniers Roman „Geschichten der Nacht“werden eine Familie und ihre Nachbarin zu Geiseln dreier unberechenbarer Brüder. Mauvigniers Buch ist weit mehr als nur ein Thriller. Auf fast schmerzhafte Weise zeichnet es, literarisch auf höchstem Niv
Auch wenn man sich eine baldige Verfilmung dieses fesselnden Romans gut vorstellen kann, weil man beim Lesen wie von selbst immer wieder die traumatischen Szenen bildhaft vor Augen hat: Keine Filmversion von Laurent Mauvigniers Romanthriller könnte wohl je an die Vielschichtigkeit seines psychologischen Kammerspiels heranreichen, in dem die Bewusstseinsströme der sieben, schicksalhaft ineinander verstrickten Figuren beständig ineinanderfließen.
„Geschichten der Nacht“beschreibt minutiös und gerade deshalb auf eine physisch schmerzhafte Art das Einbrechen des Abgründigen in den zwar alles andere als heilen, aber doch halbwegs geordneten Alltag einer französischen Kleinfamilie und ihrer Nachbarin. Zusammen bewohnen sie zwei Häuser eines abgelegenen Weilers im französischen Norden, unweit der sterbenslangweiligen Kleinstadt La Bassée nahe Lille.
Patrice ist Bauer und eher sanft und gemächlich, seine flippige Frau Marion arbeitet als Angestellte in einer Druckerei und tobt sich gerne am Freitagabend mit ihren Freundinnen in der lokalen Disco
aus. Ihre zehnjährige Tochter Ida schaut nach der Schule häufig bei der Malerin Christine vorbei, die alleine im Nebenhaus der Bergognes lebt, wo sich „Tatie“, wie Ida sie liebevoll nennt, selbst genügt und sich ihrer Kunst widmet.
Eines Nachmittags hält ein Wagen in dem Weiler namens „Écart des trois filles seules“(Nische der drei einsamen Mädchen). Angeblich interessiert sich jemand für das leerstehende dritte Haus. Kurz darauf ist Christines Hund tot. Zu dem Zeitpunkt hat Mauvignier sich über
100 Seiten hinweg behutsam an das Innenleben der Familie und ihrer Nachbarin herangetastet. Er hat den Gleichklang ihrer Tage skizziert, die notdürftig versteckte Sprachlosigkeit zwischen Patrice und Marion eingefangen, wie auch Christines latente Verbitterung. Dass ihm die seismografisch genaue Schilderung sozialer Beziehungen liegt, hat Mauvignier bereits 2001 in seinem Debüt „Fern von euch“(und seither in zehn weiteren Romanen) unter Beweis gestellt.
Thematisch wirkt der Roman
lange Zeit wie eine Melange aus Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“und Michael Haneckes albtraumhaftem Film „Funny Games“. Ähnlich wie dort bricht von einer Stunde auf die andere das Unheil in eine unscheinbare Welt ein, ohne dass zunächst ein anderes Motiv dafür erkennbar wäre als das einer diabolischen Lust, sich an der Todesangst anderer zu weiden und Gewalt auszuüben.
Wie Laurent Mauvignier – von wenigem Klischeehaften und Überzeichnungen abgesehen – auf den nächsten 400 Seiten eine klaustrophobische Dauerspannung aufbaut, die den Leser auf derart aufreibende Weise in dieser abgründigen Geschichte gefangen hält, dass man sich immer wieder von ihr erholen muss, das zeugt von einiger literarischer Meisterschaft. Wer bei Thrillern lieber wegschaut, sollte das Buch jedoch lieber nicht lesen.
Drei ungleiche Brüder werden die Familie Bergogne und ihre Nachbarin am Tag von Marions 40. Geburtstag in ihre Gewalt bringen. Losgelöst davon, wie die Sache ausgeht: Mauvignier beherrscht sein Handwerk. Immer wieder baut er retardierende Momente ein, um seine Leser im nächsten der 46 Kapitel wieder regelrecht auf des Messers Schneide zu führen. Wie es sich für ein gutes Kammerspiel gehört, wechseln die Perspektiven der Figuren genauso wie die Optionen, wie die Geschichte sich weiterentwickeln könnte.
Der Roman ist weit mehr als ein Thriller, er zeichnet ein dichtes Psychogramm seiner in inneren Widersprüchen gefangenen Figuren. Das Existenzielle der über Hunderte Seiten geschilderten Geiselnahme führt Mauvignier uns virtuos vor Augen, indem er auf der einen Seite das Bangen und Hoffen der Bedrohten und ihre Angst und Schicksalsergebenheit greifbar macht und auf der anderen Seite die Allmachtsfantasien und Spannungen innerhalb des Trios auslotet. Über Patrice heißt es etwa, dass er sich „mit schuldiger Passivität“der Macht der drei Fremden überlässt, „während sein Gehirn nichts mehr zu kontrollieren scheint, nicht einmal eine Möglichkeit sieht, zu entkommen, einen Ausweg zu finden aus einer Situation, in die er sich mit einer Art schlaffer Lust hineinsinken lässt“.
Denis wiederum, der Anführer der drei ungebetenen Gäste, verbirgt die in ihm brodelnde Wut hinter einer
Maske aus gespielter Höflichkeit. Marion hingegen, im Grunde das Zentralgestirn des Buchs, wählt „dieses beharrliche Schweigen, das sie ebenso sehr knebelt, wie es sie schützt“.
Mauvignier zieht den Abend von Marions 40. Geburtstag genüsslich in die Länge und schwenkt immer dann, wenn sich die Szenerie an einer Stelle zu entladen droht, wieder auf den zweiten Schauplatz eines drohenden Verbrechens über: das zweite Haus, in dem auch Christine in die Gewalt der Brüder gerät. Und weil – hier wie dort – immer mehrere Figuren involviert sind, deren Erleben, Fantasien und Vorgeschichte der Autor ausbuchstabiert, lebt jedes Romankapitel von der Vielschichtigkeit der Relationen. Innen wie Außen. Weshalb alles schnell aufeinanderfolgt „oder soll man besser sagen, dass es in zwei verschiedenen Zeiten passiert“, wie es an einer Stelle im Roman heißt. Zwei Zeiten, „die im gleichen Raum koexistieren, zur selben Uhrzeit, aber nicht in der gleichen Zeitlichkeit, übereinander hinweggleitend, ohne sich zu begegnen.“
Wenn es denn etwas gibt, was diesen ausgezeichneten Roman außer dem etwas überdrehten Ende trübt, dann ist es die eher holzschnitthaft gezeichnete Konstellation der drei Brüder. Aufs Ganze gesehen aber findet Laurent Mauvignier für seine albtraumhaften „Geschichten der Nacht“eine, was die Schärfe der Beobachtung und die Schlüssigkeit der Gefühlslagen anbelangt, den Roman mühelos tragende, hyperrealistische Tonlage, die auch in Claudia Kalscheuers Übersetzung erhalten bleibt.
Der Roman ist weit mehr als ein Thriller, er zeichnet ein dichtes Psychogramm seiner in inneren Widersprüchen gefangenen Figuren.