Geduld ist eine Tugend
Paradoxerweise wird Warten dann unerträglich, wenn das Ziel bereits in Sichtweite ist. Diese Tatsache ist sogar wissenschaftlich belegt. Die Langeweile wiederum ist viel besser als ihr Ruf.
VabendViele werden sich erinnern: Als Kind dehnten sich die Stunden an Heiligvor der Bescherung besonders lang. Nie im ganzen Advent war das Warten auf Weihnachten derart quälend gewesen. Aber auch Erwachsene machen die Erfahrung, dass die Ungeduld etwa auf den letzten Metern in der Schlange vor der Sicherheitskontrolle am Airport stets am größten erscheint, obwohl man schon eine ganze Weile ansteht. Desgleichen beim Warten auf ein Testergebnis. Oder wenn sich die Ziffern der Anzeigetafel einer Behörde allmählich der Nummer nähern, die man gefühlt drei Stunden zuvor gezogen hat.
Die wenigsten Menschen warten gern. Langsamkeit nervt, Stillstand geht gar nicht. Mehr als jeder Zweite nimmt laut einer repräsentativen Studie der Gesellschaft für Konsumforschung Wartezeiten als größtes Ärgernis im Alltag wahr – egal ob Jung oder Alt, Frau oder Mann. Situationen, die zur Untätigkeit verdammen, sind aus gutem Grund unbeliebt. Wer drinsteckt, vermisst das Gefühl, die Kontrolle zu haben. Das große Versprechen der Gegenwart ist schließlich die Selbstbestimmung. In Japan, Indien oder den USA ist es daher gang und gäbe, Menschen fürs Schlangestehen zu bezahlen, um sich selbst die Warterei zu ersparen. Fluggesellschaften machen mit Priority-Tickets Kasse.
Dabei warten moderne Menschen andauernd: Mindestens 374 Tage eines durchschnittlichen Lebens gehen statistischen Berechnungen zufolge nur mit Warten dahin: auf Busse und Bahnen, auf Leute, mit denen man verabredet war, auf das Ende des Staus oder der Warteschleife, auf besseres Wetter, aufs Essen, auf die Lieferung einer Bestellung, darauf, dass man seine Einkäufe endlich aufs Band an der Supermarktkasse legen darf. Die Trennlinie zwischen Fremdzeit und Eigenzeit ist in den westlichen Industrienationen scharf ausgeprägt, Warten gilt als Spanne ohne Erlebniswert. Manche warten jahrelang auf eine Beförderung oder ein halbes Leben auf die große Liebe. Nur beim Tod möchte niemand der Nächste sein.
Sonst aber schon. Der große österreichische Dichter Ernst Jandl hat eine der zentralen Erfahrungen des Wartens in sein Gedicht „Fünfter sein“verpackt: „tür auf, einer raus, einer rein, vierter sein / tür auf, einer raus, einer rein, dritter sein / tür auf, einer raus, einer rein, zweiter sein / tür auf, einer raus, einer rein, nächster sein / tür auf, einer raus, selber rein, tagherrdoktor“.
Eine neue Untersuchung belegt nun wissenschaftlich, was der eine oder die andere längst ahnte: dass nämlich das Unbehagen am Warten tatsächlich zunimmt, je absehbarer es an sein Ende kommt. Wie lange die Wartezeit insgesamt ausfällt, spielt dabei keine wesentliche Rolle, so die US-Forscherinnen Annabelle Roberts und Ayelet Fishbach. Ihr im Fachblatt „Social Psychological and Personality Science“veröffentlichtes Ergebnis aus Tests mit Hunderten Probanden bestätigt das Paradoxon, dass der Stress beim Warten immer dann ein Maximum erreicht, wenn das
Warten fast vorbei ist.
Es verhält sich so wie bei einem Marathonlauf, bei dem es auf die letzten Meter ankommt und nicht auf die ersten. Die schiere Nähe zum Ziel sei, salopp übersetzt, was die meisten beim Warten am schlechtesten aushielten, schreiben die Expertinnen, an diesem Punkt werde der Wunsch, es zu erreichen, übermächtig. Das wiederum liege ganz grundsätzlich am tiefen Drang des Menschen, Dinge zu Ende zu führen, mit Vorhaben abzuschließen, das Resultat von Versuchen zu erfahren. Das Warten auf Konsumgüter fühle sich dabei intensiver an als das Warten auf Erfahrungen, das Warten auf positive Ereignisse erscheine den Betroffenen länger als das auf voraussichtlich negative Erlebnisse.
Roberts und Fishbach hatten die Teilnehmer der Studie mit drei realen Situationen konfrontiert: das Warten auf die Ergebnisse der US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2020, das Warten auf eine erhoffte Covid-19-Impfung und das Warten auf einen Schulbus. In allen drei Fällen wurde die letzte Phase als die unangenehmste beschrieben. Ungeduld beeinflusst Entscheidungen. Menschen schrauben ihre Ansprüche häufig zurück, wenn sie die Option haben, dass ihre Erwartungen früher belohnt werden.
Die Anbieter von Waren und Dienstleistungen machen sich das zunutze. Wer warten kann, sichert sich hingegen meist größere Vorteile. Er oder sie haben zudem mehr Freude an Produkten und schätzen ihren Wert höher ein. Unternehmen schließlich, die ihre Lieferzeit eher höher als niedriger angeben, erhalten von den angenehm überraschten Kunden fast immer eine positive Bewertung.
Warten ist das Erleben von Zeit, eine Übung in Disziplin, sie zu beherrschen, ein Indikator für Erfolg. Beim berühmten „MarshmallowExperiment“des US-Psychologen Walter Mischel wurden Jungen und Mädchen im Alter bis fünf Jahre vor die Wahl gestellt, die Süßigkeit sofort zu essen oder eine Viertelstunde unbeobachtet zu warten und zur Belohnung die doppelte Menge zu bekommen.
Ein Viertel der kleinen Testpersonen langte auf der Stelle zu. Von denen, die sich auf den Deal einließen, überstand ein Drittel die Wartezeit. Im weiteren Verlauf der Langzeitstudie zeigte sich, dass letztere Probanden im Leben bessere Schulnoten erhielten, längere Ausbildungszeiten in Kauf nahmen und dadurch bessere Jobs bekamen. Darüber hinaus zeigten sie überdurchschnittlich hohe soziale Kompetenzen und bewältigten Stress eher. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist nicht angeboren. Sie muss erlernt werden. Ebenso wie die Geduld, wenn das Ziel noch weit entfernt scheint. Geduld ist die Erfahrung des Wartens ohne Leiden. Warten kann demzufolge auch eine Kunst sein. Was in der schnelllebigen digitalen Zeit abhandenzukommen droht, ist das Gefühl der Langeweile, ein zu Unrecht verpönter Zustand im dämmrigen Niemandsland vagabundierender Vorstellungen, denn er enthält das Versprechen, dass selbst einer scheinbar sinnlos vergehenden Zeitspanne eine Bedeutung innewohnen kann. Früher, als es noch kein Internet und keine Smartphones gab, brauchte man ein Buch oder jemanden zum Reden, um Wartezeiten unterhaltsam zu überbrücken. Beides war aber nicht immer so leicht zur Hand.
Verschwendete Zeit? Mitnichten. Denn das Reich der Tagträume erstreckte sich in jener noch nicht allzu fernen Vergangenheit in schier unendliche Weiten – Raum für Gedanken an das, was war, und an das, was vielleicht sein könnte. Wer sich langweilt, beschäftigt sich mit seiner Vergangenheit oder mit seiner Zukunft. Beides kann durchaus Früchte tragen. Zumindest hört die Zeit auf, ein Feind zu sein. Keiner hat das so schön in Worte gefasst wie Walter Benjamin: „Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet.“
Andererseits: Wenn es gar keine Ziele mehr gäbe, würden wir auch das Warten in Wahrheit wohl schmerzlich vermissen. Dann würde es vermutlich allen todlangweilig. Kaum vorstellbar, außer für Woody Allen natürlich, der es einmal so ausgedrückt hat: „Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.“
Mindestens 374 Tage eines Lebens gehen statistischen Berechnungen zufolge nur mit Warten dahin