Mit Atomkraft zurück in die Zukunft
In Brüssel wollen rund 30 Staats- und Regierungschefs erreichen, dass Kernkraft ein dauerhafter Bestandteil des Energiemixes in Europa bleibt.
Das Atomium in Brüssel gehört zu den Überbleibseln einer anderen Welt, ikonisch gewiss, ein 102 Meter hohes Bauwerk zwischen Skulptur und Architektur, dessen neun Eisenatome bis heute an den uneingeschränkten Optimismus erinnern, der Ende der 1950er und in den 1960er Jahren hinsichtlich der zivilen und friedlichen Nutzung der Kernspaltung herrschte. Symbolträchtiger also hätte der Ort kaum sein können, wo sich am Donnerstagvormittag rund 30 Staats- und Regierungschefs und Delegationen aus der ganzen Welt auf Einladung Belgiens und der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) zum Gipfel trafen, um den bisher größten Vorstoß zur Wiederbelebung der
Atomenergie in Europa zu unternehmen. Im vergangenen Jahr hat sich für dieses Ziel sogar ein Bündnis gebildet unter Führung von Paris. Mittlerweile gehören der Allianz 14 EU-Länder an, die Druck machen.
In einer gemeinsamen Erklärung hieß es, man wolle daran arbeiten, „das Potenzial der Kernenergie voll auszuschöpfen“, indem die Staatenlenker „Maßnahmen ergreifen wie etwa die Schaffung von Bedingungen zur Unterstützung und wettbewerbsfähigen Finanzierung der Lebensdauerverlängerung bestehender Reaktoren“. Strom aus Atomkraftwerken sei für die Verringerung klimaschädlicher CO2-Emissionen unerlässlich.
Kernenergie könne „uns einerseits helfen, die Klimakrise zu bewältigen, und sie kann uns helfen, unsere strategische Autonomie aufzubauen“, sagte denn auch EURatspräsident Charles Michel. Man müsse Kernkraft „aus der ideologischen Geiselhaft befreien“, befand Ungarns Regierungschef Viktor Orbán am Donnerstagmorgen. Und Belgiens Premierminister Alexander De Croo bezeichnete sie als „ein Teil des Puzzles“angesichts des steigenden Bedarfs.
Bei der Veranstaltung wurde vorneweg die Frage diskutiert, wie AKW-Projekte schneller umgesetzt und leichter finanziert werden können. „Wir haben immer noch eine internationale und institutionelle Architektur, die die Finanzierung von Nuklearprojekten verbietet“, kritisierte IAEA-Chef Rafael Grossi. Atomkraft müsse auf Augenhöhe mit anderen Energieprojekten behandelt werden. Die Kernenergie sei da, so der Argentinier. „Sie hat eine wichtige Rolle zu spielen.“
Tatsächlich gehen im Kreis der Europäischen Union die Meinungen bei dem heiklen Thema jedoch weit auseinander. Während Deutschland im April 2023 seine letzten Meiler abgeschaltet und damit den beschlossenen Atomausstieg mit leichter Verzögerung vollzogen hat, setzen andere Länder in Zeiten der Energiekrise auf eine Renaissance der Kernkraft. So plant nicht nur Schweden zwei neue Reaktoren. Insbesondere Frankreich treibt das Thema um. Dort stehen nicht nur die meisten Anlagen der Gemeinschaft. Es werden, wie auch in der Slowakei, gerade neue errichtet. Aktuell betreiben zwölf von 27 EU-Ländern Atomkraftwerke. Belgien hat infolge des Kriegs in der Ukraine den Ausstieg auf 2035 verschoben. Und während die einen ausbauen, steigen andere erst ein. So verfolgt neben Tschechien, wo neue Meiler geplant sind, etwa auch Polen den Weg weg von der Kohle und hin zu einem umfassenden Kernenergieprogramm, das politisch quer durch das Parteienspektrum getragen wird. Insgesamt sechs AKW sollen bis Mitte der 2040er Jahre stehen.
Ob die Ziele so auch erreicht werden können, bezweifeln jedoch viele Beobachter. Denn Projekte der Vergangenheit und Gegenwart, ob in Frankreich, Großbritannien oder Finnland, haben gezeigt, dass die Kosten oft regelrecht explodieren und Termine für die Fertigstellung unaufhörlich nach hinten verschoben werden. Um die Kosten, Produktionszeiten und Risiken zu senken, plädierten die Teilnehmer des Gipfels unter anderem für den raschen Einsatz neuerer und kleinerer Reaktoren. Zunehmend Anhänger finden beispielsweise sogenannte Small Modular Reactors (SMR). Hinter dem alternativen Konzept stecken kleine, modulare Reaktoren, die in einer Fabrik vorgefertigt und dann verbaut werden.
Das Problem, auf das Kritiker verweisen: Die Leistung dieser Technologie ist deutlich geringer als jene von konventionellen Kraftwerken. Trotzdem kündigte die EU-Energiekommissarin Kadri Simson kürzlich die Bildung einer „Industrieallianz“aus mehreren Mitgliedstaaten an mit dem Ziel, „die Entwicklung, Demonstration und den Einsatz“der SMR in Europa bis Anfang der 2030er Jahre zu beschleunigen.