Die EU ringt um ein neues Signal an Putin
Die Erträge aus eingefrorenen russischen Vermögen will der EU-Gipfel zur Unterstützung der Ukraine verwenden. Doch zunächst kann sich die Runde nicht darauf verständigen, ob das Geld dem Wiederaufbau oder dem Kauf von Waffen und Munition dienen soll. Nur
Nur kurz beim Mittagessen will sich die Runde mit UN-Generalsekretär Antonio Guterres austauschen, mit ihm zusammen erörtern, was Europa tun sollte, um im Angesicht eskalierender Krisen und Kriegen zu neuen Ordnungssystemen zu kommen. Ukraine und Gaza sind die meistgebrauchten Begriffe. Doch schon der Auftakt dieses EU-Gipfels zieht sich an diesem Donnerstag in Brüssel bis zum Nachmittag. Zu unterschiedlich sind dieses Mal die Erwartungen und Gewichtungen.
Für Ungarns Regierungschef Viktor Orbán ist das „wichtigste Thema“, die europäischen Landwirte vor ukrainischem Getreide zu schützen. Für Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer geht es als allererstes darum, die EU-Grenzen gegenüber Nordafrika und die illegale Migration abzusichern. Für Belgiens Regierungschef Alexander de Croo steht im Vordergrund, die EU im Nahen Osten in eine Führungsrolle zu bringen, um das Leiden der Palästinenser zu beenden. Und Bundeskanzler Olaf Scholz will
vor allem ein „sehr klares Signal an Putin senden“.
Der habe sich verrechnet mit der Annahme, dass die EU nicht in der Lage sein werde, die Ukraine so lange zu unterstützen, wie das nötig ist. Ein neuer und wichtiger Baustein dieser Botschaft soll die Verwendung von Zufallserträgen aus den in der EU eingefrorenen russischen Vermögenswerten sein. Die haben einen Wert von mehr als 200Milliarden Euro, und rund vier Milliarden sind
an Erträgen dazugekommen, die nicht dem russischen Eigentum zugerechnet werden. Mit steigenden Zinsen dürften es bald zweistellige Beträge im Jahr sein. Und denen will Scholz „eine klare Richtung geben“. Richtung Waffen, Richtung Munition. Aus der Kommission verlautete bereits der Vorschlag, 90 Prozent dieser Erträge in die Ukraine-Militärhilfe zu stecken.
Auch der zugeschaltete ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
verlangt, das abschöpfbare Geld für Munitionskäufe zu nutzen. „Beschämend“sei, was die EU hier bislang geleistet habe. Genau ein Jahr zuvor hatte die Gemeinschaft die Lieferung von einer Million Artilleriegeschossen zugesagt. Nicht einmal ein Drittel ist es ein Jahr später geworden.
Doch für das neutrale Österreich meldet Nehammer, der Verwendung der Erträge für Militärgüter nicht zustimmen zu können. Die Beträge für den Wiederaufbau der Ukraine zu verwenden, sei eine „gute Idee“gewesen. Aber bei Waffen und Munition mache er nicht mit. Sechs Stunden später heißt es aus dem Verhandlungssaal, Wien könne sich eine „kreative Enthaltung“vorstellen. Stattdessen hat nun Orbán an dieser Stelle eine „rote Linie“gezogen. Zum verspätet gereichten Dinner ist das Thema noch nicht vom Tisch.
Dafür ein anderes. Dafür hat der niederländische Regierungschef Mark Rutte gesorgt. Die Suche nach zusätzlichen „kreativen“Finanzierungsmöglichkeiten für die europäische Verteidigungsindustrie hat einige Länder, angeführt von Frankreich, auf die Idee gebracht, noch mal eine großes Schuldenprogramm aufzulegen, um Europa besser zu rüsten. Die Teilnehmer dürften die Berichte kennen, nach denen Geheimdienste einen russischen Angriff auf EUGebiet ab 2026 für möglich halten. Alle bekräftigen, dass verstärkte Investitionen keinen Aufschub duldeten. Aber Rutte macht klar: Auf keinen Fall durch neue Schulden. Stattdessen drehen sich die Beratungen um die Rolle der Europäischen Investitionsbank (EIB) und deren Auftrag. Die EIB gehört allen EU-Mitgliedern, und bislang darf sie nicht in Waffen und Munition investieren. Nun liegt der Vorschlag von Deutschland und 13 anderen Mitgliedern auf dem Tisch, dies künftig zuzulassen. Aufmerksam verfolgt die Runde, ob dafür die erforderliche Mehrheit zustande kommen könnte.
Dann die Erweiterung. Die EUKommission hat Bosnien-Herzegowina ein tadelloses Zeugnis über die
Reformanstrengungen ausgestellt. Scholz freut sich bereits über die „gute Botschaft“, mit dem Erweiterungsprozess auch auf dem Westbalkan voranzukommen – mehr als 20 Jahre nach dem Versprechen, die Länder in die EU aufnehmen zu wollen. Die Aufnahme von Beitrittsgesprächen, das soll die Entscheidung des Gipfels sein. Das will auch Ungarn, das dem Grundsatzbeschluss zugunsten der Ukraine zuletzt am längsten im Weg stand. Doch noch steht die Frage einer konkreten Gesprächsaufnahme mit der Ukraine ungelöst im Raum. Wird die generelle Zustimmung zu Bosnien-Gesprächen mit dem konkreten Beginn von Ukraine-Gesprächen verbunden? „Noch unter belgischer Präsidentschaft“gilt als eine Option, was besagen soll, dass es zwar noch nicht vor den EU-Wahlen soweit sein soll, aber kurz danach. Denn ab 1. Juli sind die Ungarn dran mit der Präsidentschaft. Und deren Verlangen nach Einbindung der Ukraine in die EU ist nicht wahrnehmbar.
Wenig später wechselt die Runde zum Nahen Osten. Deutschland ist den anderen entgegengekommen. Scholz verlangt nun selbst einen „länger anhaltenden Waffenstillstand“und Grenzöffnungen für humanitäre Hilfe im Umfang von 500 Lastwagen täglich. Er hat auch kein Problem damit, dass die EU in der Gipfelerklärung die von der Hamas begangenen Sexualverbrechen an israelischen Frauen verurteilt. Andere schon. Und so stellt sich der Gipfel angesichts so vieler ungeeinter Fragen auf eine lange Nacht ein.
Im Nahostkonflikt verlangt Kanzler Olaf Scholz eine länger anhaltende Waffenruhe und Grenzöffnungen für humanitäre Hilfe.