Saarbruecker Zeitung

„Die deutsche Wirtschaft ist angeschlag­en“

Die deutsche Wirtschaft ist nicht mehr produktiv genug, das Wachstum bleibt schwach. Die führenden Wirtschaft­sforschung­sinstitute empfehlen der Politik, den Bürgern „reinen Wein einzuschen­ken“.

- VON BIRGIT MARSCHALL Produktion dieser Seite: Lucas Hochstein, Isabelle Schmitt

Die deutsche Konjunktur wird nach ihrer längeren Rezessions­phase im Frühjahr wieder anspringen, doch das Wirtschaft­swachstum bleibt auch dann schwach – das ist die Kernbotsch­aft der führenden Wirtschaft­sforschung­sinstitute, die am Mittwoch ihr neues Gemeinscha­ftsgutacht­en vorgelegt haben. „Die Wirtschaft in Deutschlan­d ist angeschlag­en“, sagte Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtsc­haft (IfW). Sie werde im laufenden Jahr nur mit 0,1 Prozent wachsen. Im Herbst waren die Institute noch von einem Zuwachs der Wirtschaft­sleistung um 1,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr ausgegange­n. Für 2025 belassen die Institute die Prognose mit plus 1,4 Prozent nahezu unveränder­t.

Bereits im vergangene­n Jahr war die deutsche Wirtschaft um 0,3 Prozent geschrumpf­t. Für die anhaltende Schwäche machen die Institute konjunktur­elle und damit vor allem äußere Faktoren, aber zunehmend auch innere und damit überwiegen­d strukturel­le Nachteile verantwort­lich. So hätten nach der Pandemie die hohe Inflation und in der Folge höhere Zinsen den privaten Konsum und die Investitio­nen gebremst. Durch ein tiefes Tal gehe die Bauwirtsch­aft. Zudem seien die Exporte unerwartet gesunken, obwohl die Weltwirtsc­haft wieder robuster sei. In diesem Jahr avanciere der private Konsum wegen der rückläufig­en Inflation und höherer Realeinkom­men wieder zur „wichtigste­n Triebkraft“der Konjunktur. Im kommenden Jahr dann vermehrt auch das Auslandsge­schäft, so die Institute.

Die größten Sorgen bereitet den Ökonomen die geringe Arbeitspro­duktivität und damit das geringe Wachstumsp­otenzial. Seit der Pandemie „tritt die Produktivi­tät auf der Stelle, und die inzwischen um über 600 000 höhere Zahl der Erwerbstät­igen kompensier­t im Wesentlich­en nur die niedrigere durchschni­ttlich geleistete Arbeitszei­t“, heißt es im Gutachten. Dabei spiele auch der stark erhöhte Krankensta­nd eine Rolle. In den vergangene­n Jahren seien zusätzlich­e Arbeitsplä­tze fast ausschließ­lich mit Zuwanderer­n besetzt worden. Viele erfüllten nicht das höhere Anforderun­gsprofil der Arbeitgebe­r. Die Politik müsse künftig mehr Anreize setzen, um höher qualifizie­rte Einwandere­r zu gewinnen. „Es ist ein Wettbewerb um die Talente dieser Welt, die heute so mobil sind, wie keine Generation vor ihnen“, sagte IfW-Forscher Kooths.

Die Institute sehen zudem in der „Politikuns­icherheit“eine Ursache für die geringe Investitio­nstätigkei­t. Deutliche Kritik üben die Ökonomen am Hin und Her von Förderprog­rammen und Subvention­sentscheid­ungen der Regierung mal für die eine, mal für die andere neue Investitio­n. Statt dieser erratische­n Politik brauche die Wirtschaft verlässlic­he, allgemeine Rahmenbedi­ngungen, um langfristi­g planen zu können. So sollte die Bundesregi­erung bei der weiter notwendige­n Transforma­tion der Wirtschaft zur Klimaneutr­alität auf das Instrument der CO2-Bepreisung vertrauen und für alle klar und eindeutig festlegen, wie der CO2-Preis in den kommenden Jahren steigen wird. Für unsichere Rahmenbedi­ngungen sei aber nicht allein die aktuelle Ampel-Regierung, sondern auch Vorgänger-Regierunge­n verantwort­lich, sagte Oliver Holtemölle­r vom Institut für Wirtschaft­sforschung Halle (IWH).

Die von SPD und Grünen geforderte Reform der Schuldenbr­emse für mehr neue Schulden sei „kein Allheilmit­tel“zur Standortve­rbesserung, warnen die Institute. Gleichwohl plädieren sie aber dafür, die Schuldenbr­emse behutsam zu reformiere­n. Sie schließen sich einem Vorschlag der Bundesbank an.

Die Institute empfehlen auch, die Einnahmen aus der konkunktur­abhängigen CO2-Bepreisung bei der Berechnung der zulässigen Neuverschu­ldung stärker zu berücksich­tigen. Auch dadurch könnte sich der Verschuldu­ngsspielra­um des Staates in schwächere­n Phasen erhöhen. Allerdings hänge das „Wohl und Wehe des Standorts“von der Reform der Schuldenbr­emse nicht ab, stellen die Forscher klar. Um den Standort zu verbessern, müsse an vielen Stellschra­uben gleichzeit­ig gedreht werden. Das Steuersyst­em müsse reformiert, Infrastruk­tur-Investitio­nen verbessert, Bürokratie abgebaut und die Verfügbark­eit von Fachkräfte­n erhöht werden. Die Politik müsse den Bürgern zudem „reinen Wein einschenke­n“, sagte Timo Wollmershä­user vom Münchner Ifo-Institut. Das Rentensyst­em sei künftig ohne die Verlängeru­ng der Lebensarbe­itszeit nicht finanzierb­ar.

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