Mit ABBA durch Brighton
Vor 50 Jahren triumphierten die Schweden beim ESC und starteten ihre Weltkarriere im quirligen englischen Seebad.
Beichten oder bluffen? Paul muss sich entscheiden – binnen Sekunden. Gerade hat der 17-jährige Autogrammjäger im südenglischen Seebad Brighton die Unterschriften einer gewissen Annafrid und eines Björn ergattert, als letzterer plötzlich fragt: „Weißt Du eigentlich, wer wir sind?“Paul entscheidet sich fürs Beichten: „Äh – nein, weiß ich nicht...“Darauf Björn: „Wir sind ABBA, und wir werden das hier gewinnen!“Paul sitzt am nächsten Abend vorm Fernseher, schaut den ESC, als ABBA an diesem 6. April 1974 den altehrwürdigen ChansonWettbewerb aufmischen. In klobigen Silberstiefeln, Häkelmütze und rüschig-plüschigen Glitzerkostümen spielen sie mit ihrem rockigfröhlichen „Waterloo“alle an die Wand – von Cindy & Bert, angetreten mit kreuzbraver „Sommermelodie“, bis zur favorisierten Olivia NewtonJohn, am Start für Gastgeber Großbritannien.
„Guck, von denen hab ich ein Autogramm“, sagt Paul damals zu seinen Eltern und zeigt sein blaues Notizbuch – so, wie der Rechtsanwalt es heute auch noch gerne aufblättert und sich erinnert, als hätte er gestern vorm „Dome“gestanden, der ESC-Veranstaltungshalle. Ihre ziselierten Türmchen, Bogenfenster und Säulen könnten eher einen Palast schmücken. Der liegt gleich dahinter: überladen mit vergoldeten Bananenblättern, glitzernden XXL-Lüstern und indisch anmutenden Zwiebel-Kuppeln ist er Brightons Wahrzeichen, erbaut
als Luxus-Datscha ab 1815 im Auftrag des exzentrischen Kronprinzen und späteren König Georg IV. So wie heute viele Touristen posieren 1974 alle beim ESC antretenden Künstler vor diesem „Royal Pavilion“. Björn und Benny in Rollkragen-Pullis mit Annafrid und Agnetha auf den Schultern – eines der ABBA-Fotos, das nach dem ESC-Sieg um die Welt geht.
Im plüschigen, zweistöckigen Zuschauer-Halbrund des Dome sitzen damals 1700 Gäste – handverlesen. Denn die meisten Tickets verteilte Brightons Bürgermeister in Umlandgemeinden sowie an Familienmitglieder, Freunde und Mitarbeiter. So kommt auch Carol Theobald durch ihren Mann, einen Parlamentarier, an VIP-Tickets. Die hat Carol, später Schönheitskönigin und heute Stadträtin in Brighton, bis heute aufgehoben und stellt sie als Leihgabe der Ausstellung „ABBA – One Week in Brighton“zur Ver
fügung, die das Brighton Museum zum 50. ESC-Jubiläum zeigt, gleich neben dem Dome.
„Schon bei den ersten Takten von Waterloo war ich mir sicher, die gewinnen“, erinnert sich Carol Theobald. William Samson, damals 21, wird mit seinem ESC-Ticket kurz vor der Show überrascht. Sein Vater, als Polizist am Dome stationiert, bekommt das Ticket dort von einem VIP geschenkt, schickt seinem Sohn ein Taxi, sodass er gerade noch pünktlich eintrifft. Nach der Show hebt William in der leeren Halle alles auf, was ihm sammelnswert erscheint: Eine Feder vom Kostüm der ESCModeratorin, VIP-Tickets, einen Probenplan. Und ein Programmheft, auf dem er Autogramme von allen vier ABBA-Musikern ergattert – wahrscheinlich als einziger überhaupt. Auch diese Sammlerstücke zeigt die Ausstellung – ebenso wie ABBAs ESC-Schlagzeug – Leihgabe eines Musikgeschäfts in Brighton. „Das ABBA-Museum in Stockholm will das Schlagzeug seit Jahren, aber die Besitzer rücken es nur für uns raus“, sagt Ausstellungs-Macherin Jodie East stolz.
ABBA stehen ihren ESC-Triumph vor 50 Jahren durch – buchstäblich. Denn ihre Kostüme (Björn: „Wir sahen schrecklich aus!“) sind so eng, dass die vier Schweden sich darin nicht hinsetzen können, weshalb sie stehend vom Hotel „The Grand“zum Dome und zurück chauffiert werden. Das „Grand“, ein heute 160 Jahre alter, außen weißer, innen deutlich angejahrter Palast mit vielfach gerissenem Teppich und abgestoßenen Ecken, erinnert mit QR-Codes an viele Promi-Gäste und den hier 1984 auf Premierministerin Thatcher verübten IRA-Bombenanschlag.
ABBA wohnen 1974 – passend zum Siegertitel „Waterloo“– in der Napoleon-Suite und bummeln draußen vorm Hotel über Brightons Promenade sowie den kieseligen Strand, wo sie für Fotos an einem Badekarren posieren.
Diese Seafront verfällt heute zusehends. Der abgebrannte West-Pier, einst eine von drei weit ins Meer reichenden Seebrücken, ragt nur noch als stählernes Gerippe aus dem Wasser, der zentral gelegene, 500 Meter lange Palace Pier ist zwar nach wie vor ein blinkender, gut bevölkerter XXL-Vergnügungssteg mit Daddelautomaten und Karussells. Aber drumherum sind viele Hotels und Läden dicht. Die einst prächtige Flanierpromenade „Marine Parade“rottet unkrautüberwuchert und einsturzgefährdet vor sich hin – trotz Rettungs-Initiative mit Spendenaufruf.
Dennoch: Brighton brummt! Acht Millionen Gäste kommen pro Jahr, an Wochenenden vor allem „Daytripper“: Kurzzeiturlauber aus London, von denen viele durchgefeiert und mit Krebsrot-Sonnenbrand wieder heimfahren aus den Strandcafes und Discos des 250.000-EinwohnerSeebads, heute ein Hotspot für alle LGBTQ-Menschen. Denn Freizügigkeit ist Teil von Brightons DNA, seit der Badetourismus etwa 1750 begann. Kronprinz Georg – Spitzname „Prinny“nutzte bald die Chance, sich fern der gestrengen Eltern und der spaßbefreiten Gattin mit diversen Mätressen zu vergnügen und seiner Spielsucht zu frönen. Es folgten Bohemians und Lebenskünstler, gescheiterte Existenzen und Promis: der Dandy Lord Byron, Schriftsteller wie Charles Dickens und Theodor Fontane, später auch Paul McCartney oder Cate Blanchett.