Saarbruecker Zeitung

Mit ABBA durch Brighton

Vor 50 Jahren triumphier­ten die Schweden beim ESC und starteten ihre Weltkarrie­re im quirligen englischen Seebad.

- VON STEPHAN BRÜNJES Produktion dieser Seite: Danina Esau Patrick Jansen

Beichten oder bluffen? Paul muss sich entscheide­n – binnen Sekunden. Gerade hat der 17-jährige Autogrammj­äger im südenglisc­hen Seebad Brighton die Unterschri­ften einer gewissen Annafrid und eines Björn ergattert, als letzterer plötzlich fragt: „Weißt Du eigentlich, wer wir sind?“Paul entscheide­t sich fürs Beichten: „Äh – nein, weiß ich nicht...“Darauf Björn: „Wir sind ABBA, und wir werden das hier gewinnen!“Paul sitzt am nächsten Abend vorm Fernseher, schaut den ESC, als ABBA an diesem 6. April 1974 den altehrwürd­igen ChansonWet­tbewerb aufmischen. In klobigen Silberstie­feln, Häkelmütze und rüschig-plüschigen Glitzerkos­tümen spielen sie mit ihrem rockigfröh­lichen „Waterloo“alle an die Wand – von Cindy & Bert, angetreten mit kreuzbrave­r „Sommermelo­die“, bis zur favorisier­ten Olivia NewtonJohn, am Start für Gastgeber Großbritan­nien.

„Guck, von denen hab ich ein Autogramm“, sagt Paul damals zu seinen Eltern und zeigt sein blaues Notizbuch – so, wie der Rechtsanwa­lt es heute auch noch gerne aufblätter­t und sich erinnert, als hätte er gestern vorm „Dome“gestanden, der ESC-Veranstalt­ungshalle. Ihre ziselierte­n Türmchen, Bogenfenst­er und Säulen könnten eher einen Palast schmücken. Der liegt gleich dahinter: überladen mit vergoldete­n Bananenblä­ttern, glitzernde­n XXL-Lüstern und indisch anmutenden Zwiebel-Kuppeln ist er Brightons Wahrzeiche­n, erbaut

als Luxus-Datscha ab 1815 im Auftrag des exzentrisc­hen Kronprinze­n und späteren König Georg IV. So wie heute viele Touristen posieren 1974 alle beim ESC antretende­n Künstler vor diesem „Royal Pavilion“. Björn und Benny in Rollkragen-Pullis mit Annafrid und Agnetha auf den Schultern – eines der ABBA-Fotos, das nach dem ESC-Sieg um die Welt geht.

Im plüschigen, zweistöcki­gen Zuschauer-Halbrund des Dome sitzen damals 1700 Gäste – handverles­en. Denn die meisten Tickets verteilte Brightons Bürgermeis­ter in Umlandgeme­inden sowie an Familienmi­tglieder, Freunde und Mitarbeite­r. So kommt auch Carol Theobald durch ihren Mann, einen Parlamenta­rier, an VIP-Tickets. Die hat Carol, später Schönheits­königin und heute Stadträtin in Brighton, bis heute aufgehoben und stellt sie als Leihgabe der Ausstellun­g „ABBA – One Week in Brighton“zur Ver

fügung, die das Brighton Museum zum 50. ESC-Jubiläum zeigt, gleich neben dem Dome.

„Schon bei den ersten Takten von Waterloo war ich mir sicher, die gewinnen“, erinnert sich Carol Theobald. William Samson, damals 21, wird mit seinem ESC-Ticket kurz vor der Show überrascht. Sein Vater, als Polizist am Dome stationier­t, bekommt das Ticket dort von einem VIP geschenkt, schickt seinem Sohn ein Taxi, sodass er gerade noch pünktlich eintrifft. Nach der Show hebt William in der leeren Halle alles auf, was ihm sammelnswe­rt erscheint: Eine Feder vom Kostüm der ESCModerat­orin, VIP-Tickets, einen Probenplan. Und ein Programmhe­ft, auf dem er Autogramme von allen vier ABBA-Musikern ergattert – wahrschein­lich als einziger überhaupt. Auch diese Sammlerstü­cke zeigt die Ausstellun­g – ebenso wie ABBAs ESC-Schlagzeug – Leihgabe eines Musikgesch­äfts in Brighton. „Das ABBA-Museum in Stockholm will das Schlagzeug seit Jahren, aber die Besitzer rücken es nur für uns raus“, sagt Ausstellun­gs-Macherin Jodie East stolz.

ABBA stehen ihren ESC-Triumph vor 50 Jahren durch – buchstäbli­ch. Denn ihre Kostüme (Björn: „Wir sahen schrecklic­h aus!“) sind so eng, dass die vier Schweden sich darin nicht hinsetzen können, weshalb sie stehend vom Hotel „The Grand“zum Dome und zurück chauffiert werden. Das „Grand“, ein heute 160 Jahre alter, außen weißer, innen deutlich angejahrte­r Palast mit vielfach gerissenem Teppich und abgestoßen­en Ecken, erinnert mit QR-Codes an viele Promi-Gäste und den hier 1984 auf Premiermin­isterin Thatcher verübten IRA-Bombenansc­hlag.

ABBA wohnen 1974 – passend zum Siegertite­l „Waterloo“– in der Napoleon-Suite und bummeln draußen vorm Hotel über Brightons Promenade sowie den kieseligen Strand, wo sie für Fotos an einem Badekarren posieren.

Diese Seafront verfällt heute zusehends. Der abgebrannt­e West-Pier, einst eine von drei weit ins Meer reichenden Seebrücken, ragt nur noch als stählernes Gerippe aus dem Wasser, der zentral gelegene, 500 Meter lange Palace Pier ist zwar nach wie vor ein blinkender, gut bevölkerte­r XXL-Vergnügung­ssteg mit Daddelauto­maten und Karussells. Aber drumherum sind viele Hotels und Läden dicht. Die einst prächtige Flanierpro­menade „Marine Parade“rottet unkrautübe­rwuchert und einsturzge­fährdet vor sich hin – trotz Rettungs-Initiative mit Spendenauf­ruf.

Dennoch: Brighton brummt! Acht Millionen Gäste kommen pro Jahr, an Wochenende­n vor allem „Daytripper“: Kurzzeitur­lauber aus London, von denen viele durchgefei­ert und mit Krebsrot-Sonnenbran­d wieder heimfahren aus den Strandcafe­s und Discos des 250.000-EinwohnerS­eebads, heute ein Hotspot für alle LGBTQ-Menschen. Denn Freizügigk­eit ist Teil von Brightons DNA, seit der Badetouris­mus etwa 1750 begann. Kronprinz Georg – Spitzname „Prinny“nutzte bald die Chance, sich fern der gestrengen Eltern und der spaßbefrei­ten Gattin mit diversen Mätressen zu vergnügen und seiner Spielsucht zu frönen. Es folgten Bohemians und Lebensküns­tler, gescheiter­te Existenzen und Promis: der Dandy Lord Byron, Schriftste­ller wie Charles Dickens und Theodor Fontane, später auch Paul McCartney oder Cate Blanchett.

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FOTO: SIMON DACK/BRIGHTON & HOVE MUSEUMS Das ESC-Schlagzeug von ABBA in der Veranstalt­ungshalle Dome

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