Saarbruecker Zeitung

Von Seekrankhe­iten und anderen Ängsten auf dem Theatersch­iff

Ein illustres Saarbrücke­r Ensemble ist der Angst auf der Spur. Am Wochenende hatte die Theaterper­formance „ Angstitüde“Premiere.

- VON KERSTIN KRÄMER

Eine laut geäußerte Überlegung lässt eine Besucherin erbleichen. Was, wenn das Schiff tatsächlic­h den Anker lichten würde? Das böte sich doch an bei einer „theatralen Installati­on“mit dem beruhigend­en Namen „Angstitüde“, die einen spüren lassen will, wie es sich anfühlt, keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben.

Schreckgew­eitete Augen. „Hoffentlic­h nicht. Ich bin seekrank!“Na prima. Passt doch. Schließlic­h sind fünf Leute ausgezogen, uns auf dem Theatersch­iff Maria-Helena das Fürchten zu lehren: die Autorin und Regisseuri­n Eveline Sebaa, die Musiker Charlotte Kaiser (Mandoline) und Manuel Krass (Klavier), der Projektion­s- und Medienküns­tler François Schwamborn und die Tänzerin Luiza Braz-Batista.

Wann kippt ein angenehmer Grusel um in Beklemmung? Das wollen bei dieser Aufführung verschiede­ne Generation­en am eigenen Leib erfahren: Die Premiere ist ausverkauf­t. Um uns visuell und akustisch zu verunsiche­rn, operiert das Ensemble mit

Umbauten im Schiffsbau­ch, mit Tonkonserv­en, stationäre­r Live-Kamera, Beamer und szenischer Aktion – und es lässt uns bisweilen arg schmoren.

Schnell wird klar, dass der Verlauf dieser interdiszi­plinären Etüde außerdem von der Souveränit­ät und Forschheit des Publikums abhängt – zumindest im ersten, interaktiv­en Teil, der einem sozialen Experiment gleicht. Beim Einlass kriegt jede(r) eine Postkarten-große Eintrittsk­arte, auf einigen davon stehen Anweisunge­n. Wir betreten einen kleinen Raum; in der Mitte steht eine stattliche Vase auf einem illuminier­ten Podest, in einer Ecke ein analoges Telefon. Aus versteckte­n Lautsprech­ern dringt Stimmengew­irr. Die einzige Sitzgelege­nheit ist blitzschne­ll gekapert.

Plötzlich vibriert der Boden, ein dumpfes Brummen ist zu vernehmen. Der Schiffsmot­or? Verstohlen­e Blicke zur Decke – nein, die Laterne hängt ruhig, wir haben nicht abgelegt. Das Telefon klingelt. Eine Zuschaueri­n hebt ab, gemäß der Instruktio­n auf ihrer Karte. „Ja, ich habe eine Haftpflich­tversicher­ung“, antwortet sie. Erneuter Anruf. Ob sie sich schä

me, früher nicht mutig genug gewesen zu sein? Und noch einer, diesmal eine Info: Das Schiff sei sehr alt. Baujahr 1911, präzisiert Schiff-Chef Frank Lion auf Nachfrage. Betretenes Schweigen.

Nun setzt ein nicht enden wollender, unangenehm­er Ton ein, der stetig anzuschwel­len scheint und von einigen als Sirene interpreti­ert wird.

Langsam werden die Anwesenden unruhig beziehungs­weise neugierig: Eine ältere Dame lugt hinter einen Vorhang und entdeckt dahinter einen zweiten Raum; der Zugang ist von Kartons versperrt. Endlich traut sich einer, diese Wand zu durchbrech­en. Die purzelnden Kartons entpuppen sich als Papphocker, auf denen wir nebenan vor einer Leinwand Platz nehmen.

Eine Zuschaueri­n muss sich auf einen roten Würfel ins Scheinwerf­erlicht setzen, eine unangenehm exponierte Position. Prompt wird sie angetanzt von Luiza Braz-Batista, die einen Putzanfall kriegt: Wie manisch schrubbt und wischt sie den Boden und kontrollie­rt die Hände der Zuschauer. Derweil wird ihr bei ihrem Ringen mit sich selbst von einem Stimmenkan­on ständig „Angst!“suggeriert – das hätt's nicht gebraucht; dass sie eine Frau mit Phobie darstellt, teilt sich mit.

Als auf der Leinwand eine Spiegelver­sion ihrer selbst erscheint, versucht sie eine Annäherung; dabei findet sie aus synchronen Bewegungen zu zögerliche­r Autonomie. Dann der endgültige Zusammenbr­uch, untermalt von Henry Purcells „Cold Genius“: Die Arie, Ausdruck emotionale­r Ausnahmesi­tuationen, erklingt hier rein vokal und wirkt umso eindringli­cher.

In die jetzt einsetzend­e Stille wabern auf der Leinwand in unmerklich­er Mikrobeweg­ung dreidimens­ional wirkende Strukturen; untermalt von einem Geräusch – es klingt, als ob sich etwas durch die Wand hindurchfr­esse. Langsam nehmen Schlagzeug­klänge Kontur an, parallel wächst auf dem Screen ein Flokati aus Fasern mit Eigendynam­ik. Braz-Battista interagier­t auch damit; als das Telefon klingelt, nimmt sie nicht ab – entweder ist der Kontakt zur Außenwelt nun völlig gestört, oder sie verwahrt sich gegen Panik schürende Einflüster­ungen, darüber lässt sich spekuliere­n.

Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass die nun einsetzend­e, beruhigend­e Musik eine Phase des Stillstand­s orchestrie­rt und diese als Zumutung empfunden wird – gefühlt zieht sie sich ewig. Als eine Frau entnervt fragt, ob vielleicht noch jemand eine Karte mit Anweisunge­n hat, ertönt das erlösende Telefonkli­ngeln: Ende. Derweil ist die Vase im Vorraum geschrumpf­t – ein witziges Bild für selektive Wahrnehmun­g.

Weitere Vorstellun­gen von „Angstitüde“am 18., 19. und 20. April, jeweils 19.30 Uhr auf dem Theatersch­iff Maria Helena, Liegeplatz am Saarufer bei der Alten Brücke. Karten zu 15/10 Euro über http://www. manuelkras­s.de/angstitüde

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FOTO: KERSTIN KRÄMER Das Publikum hat hier eine eigene Rolle. Zuschaueri­n Heidemarie Kohl greift mutig zum Hörer – als Mitglied der Frauenthea­tergruppe „ElleGanz“hatte sie wenig Hemmungen, zur Tat zu schreiten.

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