„ErLesen“: Hier geht die Literatur mit Soldaten des Kaisers zu Fuß
Ein bisschen skurril wirkt es schon, als am Sonntagnachmittag eine kleine Gruppe, angeführt von zwei Soldaten in Uniformen aus Zeiten des Kaiserreichs vom Saarbrücker Schloss aus über die Alte Brücke zum St. Johanner Markt patrouilliert. „Vorne verkürzen“, ruft der „preußische Musketier Woll“, wie sich Darsteller Marco Hillinger nennt. Das heißt auf Militärsprache, dass der hintere Teil der Truppe aufrücken soll, um keine zu große Lücke entstehen zu lassen.
Der kurze Stopp auf der Alten Brücke ist beim Lesespaziergang zu Spielorten des historischen Romans „Töchter des Aufbruchs“, einer Trilogie von Marie Pierre alias Maria W. Peter, schon die fünfte Station. Wie man es von den Saarbückern kennt, ist der St. Johanner Markt bei strahlendem
Sonnenschein extrem voll. Doch der preußische Soldat und auch sein Kollege, ein Oberstleutnant der 67. Infanterie von Napoleons Garde Imperiale (gespielt von Thomas Kirsch), lassen sich nicht aus der Ruhe bringen.
Hier an einem der kleinen Rondelle,
liest Maria Peter aus ihrem Roman. In dieser Folge geht es darum, dass eine beherzte Lehrerin gegen die strengen preußischen Konventionen verstößt, als sie auf der Suche nach einer ihrer Schülerinnen einen Hauptmann um Hilfe bitten möchte. Ein Drittel der
Geschichte spielt in Saarbrücken, zwei Drittel in Thionville.
„Ich habe mich für Thionville entschieden, weil es dort zu der Zeit eine so bunt gemischte Bevölkerung gab“, erklärt die Autorin die Wahl der Spielorte ihrer Geschichte. Da gab es die Preußen und auch die Franzosen, die sich auch öfter mal geprügelt haben sollen. Außerdem viel Militär, die Hüttenarbeiter und auch italienische Gastarbeiter. Für die Autorin war der interessante Schmelztiegel an unterschiedlichsten Menschen, die 1910 dort lebten, der ausschlaggebende Punkt. Die historische Genauigkeit gelingt ihr durch lange, detaillierte Recherchen und die Hilfe von Historikern.
Beim Saarbrücker Lesespaziergang werden die Spielorte nicht eins zu eins abgegangen, der Autorin geht es heute vor allem darum, sich wirklich in Menschen der Kaiserzeit hineinversetzen zu können. So spielen die beiden Soldaten-Darsteller gar keine Rolle im Roman-Plot, zeigen aber mit kleinen Anekdoten an den verschiedenen Haltepunkten, wie es sich damals so gelebt hat.
„Der da hinten, der hat auch gern mal ziemlich angegeben“, sagt der preußische Soldat mit durchdringender Miene und zeigt an der zweiten Station, einem Raum im Historischen Museum, auf das riesige Gemälde von Kaiser Wilhelm II. „Die Menschen haben sich im Laufe der Zeit extrem verändert, aber auf eine Art auch gar nicht“, sagt Maria Peter, die nicht nur Literatur, Anglistik und Amerikanistik, sondern auch Archäologie und Alte Geschichte studiert hat.
Die Idee zum Lesespaziergang entstand eigentlich aus der Not heraus, in der Corona-Zeit. Dass der literarische Spaziergang nicht die erste kulturhistorische Veranstaltung ist, die die Autorin mit viel Liebe kreiert und kuratiert hat, wird deutlich: Trotz zwei Stunden Programm wird es nicht langweilig. Die Kombination der echten historischen Orte mit dem Museum, den darstellenden Passagen, den Leseabschnitten, dem gemeinsamen Spazieren in der Sonne machen die Gesellschaft des Kaiserreichs auf lockere Art nahbar.
„Ich möchte das nicht auf die Zeigefinger-Art vermitteln``, sagt Maria Peter, „sondern indirekt durch das Erleben der Geschichte. Es geht eher um eine innere Öffnung, um die Entwicklung von Empathie und Menschlichkeit durch das Miterleben und Fühlen anderer, fremder Leben“. Weitere Infos im Internet auf: