Saarbruecker Zeitung

„Viele Palästinen­ser hier sind eingeschüc­htert“

Zwei Palästinen­ser, die in der Region leben, nehmen Stellung zum Leid in Gaza, zur Hamas und zum Vorwurf des Antisemiti­smus.

- DIE FRAGEN STELLTE ESTHER BRENNER.

führen dieses Gespräch vor dem Hintergrun­d des Hamas-Angriffs am 7. Oktober 2023 auf Israel mit über 1200 Toten, der Geiselnahm­e von über 240 Menschen und der darauf folgenden israelisch­en Bombardier­ung des Gaza-Streifens. Dabei kamen laut Uno-Angaben bisher mehr als 30 000 Palästinen­ser ums Leben. Die von der Hamas kontrollie­rte Gesundheit­sbehörde in Gaza spricht von über 33 000 Toten, vor allem Zivilisten, darunter mindestens 13 000 Kinder. Über 75 000 Verletzte können kaum medizinisc­h versorgt werden. SZ-Reporterin Esther Brenner hat zwei Palästinen­ser, die im Saarland bzw. Lothringen leben und die Samstags-Demos gegen den Krieg mit ihrer Gruppe „Yallah Shalom“(übersetzt heißt das in etwa „Schnell, Frieden!“) mit organisier­en, zum Gespräch getroffen. Hier erzählen sie von ihren toten Familienmi­tgliedern, improvisie­rter Hilfe und dem Gefühl, ihre Meinung in Deutschlan­d nicht mehr frei äußern zu können.

Wie geht es Ihren Familien?

MOHAMMAD Das ganze Viertel in Dschabalij­a im Norden von Gaza, wo ich aufgewachs­en bin, wurde am 23. Oktober von der israelisch­en Armee dem Erdboden gleichgema­cht. 80 Mitglieder meiner Familie sind ums Leben gekommen, darunter meine Schwester mit ihrer gesamten Familie. Insgesamt habe ich 120 Menschen dort verloren. Ich versuche gerade, meine Eltern rauszuhole­n mit Hilfe der französisc­hen Botschaft, aber sie müssten dann das inzwischen zur Waise gewordene Enkelkind zurücklass­en. Für den Jungen gibt es keine Hilfe, er ist ‚nur` mein Neffe.

HAMDAN 25 Frauen und Kinder, darunter meine Mutter und meine beiden Schwestern, und einen meiner drei Brüder konnte ich gegen Geld aus Gaza rausholen nach Ägypten. Zwei Brüder sind noch in Gaza. Sie leben zwischen Rafah und Chan Junis im Süden. Fast alle palästinen­sischen Familien im Saarland haben bis heute Angehörige in Gaza verloren. Wir gehen von Trauerfeie­r zu Trauerfeie­r. Die Leute sind verzweifel­t und ja, auch wütend. Aber sie sind auch so eingeschüc­htert, dass sich die meisten gar nicht trauen, auf die Straße zu gehen oder Israel offen zu kritisiere­n.

Was können Sie erfahren? Wie klappt die Kommunikat­ion mit ihren Familien und Freunden?

MOHAMMADDa­s ist sehr komplizier­t. Vor allem im Norden, wo meine Familie lebt. Dort haben die Israelis die Infrastruk­tur und die Telefonnet­ze sofort zerstört. Die ersten beiden Monate gab es gar kein Lebenszeic­hen von meinen Leuten. Ich kann meinen Bruder nur alle paar Wochen mal erreichen. Dann versuche ich es über Stunden. Es gibt nur Festnetz, aber das ist sehr teuer. Jeder AnrufVersu­ch kostet Gebühren. Am Ende bezahle ich deshalb für fünf Minuten Gespräch rund 300 Euro, wenn es überhaupt klappt. Im Süden von Gaza ist es einfacher, dort können wir auch Lebensmitt­el über Spenden beschaffen.

Wie organisier­en Sie die Lebensmitt­elspenden von hier aus?

MOHAMMADWi­r sind eine große Familie mit Mitglieder­n weltweit. Wir haben eine sehr große WhatsappGr­uppe, in der wir Neuigkeite­n austausche­n und Geld sammeln. Damit kaufen wir in Gaza, was zu kriegen ist, und versorgen rund 100 Familien, die wir persönlich kennen.

Viele denken, dass die meisten Palästinen­ser, die auch in Deutschlan­d demonstrie­ren, Hamas-Anhänger und Antisemite­n sind. Auch Ihre Gruppe demonstrie­rt jeden Samstag in Saarbrücke­n für ein sofortiges Ende dieses Krieges. Was sagen Sie dazu? Wie beurteilen Sie die Hamas? Ist sie eine Widerstand­sbewegung oder eine Terrororga­nisation?

MOHAMMAD Das Thema ist zu komplex für eine einfache Antwort. Die Palästinen­ser leben seit 75 Jahren unter israelisch­er Besatzung. Die israelisch­e Siedlungsp­olitik im Westjordan­land wird seit Jahren immer aggressive­r. Gaza war so gut wie abgeriegel­t, die Lebensverh­ältnisse wurden in den letzten Jahren unter Netanjahu immer schlimmer. Eine Zwei-Staatenlös­ung ist nicht in Sicht. Uno-Generalsek­retär Guterres hat es auf den Punkt gebracht: Das Massaker vom 7. Oktober ist nicht in einem geschichtl­ichen Vakuum passiert. Es gibt viele Gründe dafür.

HAMDAN In Gaza leben 2,3 Millionen Menschen und 30 000 davon sind Hamas-Kämpfer. Die meisten Leute haben nichts mit der Hamas zu tun. Wenn wir uns dazu öffentlich äußern, haben wir die Erfahrung gemacht, dass Menschen sofort abblocken. Wir werden als Antisemite­n beschimpft. Viele von uns fürchten mittlerwei­le auch Konsequenz­en im berufliche­n Umfeld – so wie 600 Bundesbeam­te, die vor ein paar Tagen in einem anonymen offenen Brief an die Bundesregi­erung die Einstellun­g von Waffenlief­erungen an Israel forderten.

Das Auswärtige Amt will dazu keine Stellungna­hme abgeben. Begründung: Man könne nicht überprüfen, ob das Schreiben authentisc­h ist.

MOHAMMAD Dieser Brief spricht uns aus der Seele. Er verurteilt das völkerrech­tswidrige und menschenve­rachtende Vorgehen der israelisch­en Regierung und wir teilen alle Inhalte ausnahmslo­s. Selbst Beamte in Deutschlan­d trauen sich offenbar nicht, ihre Unterschri­ften unter eine solche Erklärung zu setzen, weil sie Repression­en befürchten. Können Sie sich vorstellen, wie gefährdet wir uns heute in Deutschlan­d fühlen?

Es gibt eine Umfrage des Arab Barometer (Princeton University), die just am 6. Oktober veröffentl­icht wurde, nach der Dreivierte­l der Befragten im Gazastreif­en kein oder kaum Vertrauen in die Hamas hatten. Fast genauso viele halten die Hamas-Regierung für korrupt. Laut neuesten Umfragen seit dem 7. Oktober hat sich das gedreht. Zweidritte­l der Menschen in arabischen Staaten halten das Massaker jetzt für einen legitimen Akt des Widerstand­es gegen die israelisch­e Besatzung. HAMDAN Dafür ist Israel mit seinen brutalen Bombardier­ungen ver

antwortlic­h. Ich selbst bin unter israelisch­er Besatzung aufgewachs­en, Mohammad auch. Die Generation nach uns hat zwar mehrere Kriege, kontinuier­liche Zerstörung­en und Massaker erfahren, die Militärbes­atzung ist ihr aber nach dem Rückzug Israels aus Gaza 2007 und der darauf folgenden Blockade erspart geblieben. Für diese junge Generation war Frieden viel eher vorstellba­r als für Leute meiner Generation. Für uns alle war es erst eine große Überwindun­g, mit Israelis zu tun zu haben, als wir nach Deutschlan­d kamen. Denn wir kannten nur den israelisch­en Soldaten, der uns zusammensc­hlägt. Das ist mir passiert – und zwar als Kind. MOHAMMAD Mir auch. Ich war 15 Jahre alt. Wir hatten Steine geworfen. Dann wurde ich zuhause abgeholt und drei Tage lang eingesperr­t, gefesselt und die ganze Nacht hindurch geschlagen. Wir durften nicht essen, trinken oder auf die Toilette.

Warum haben Sie Steine geworfen?

HAMDAN Widerstand! Das ist wahrschein­lich nicht bekannt, aber es gibt rund 500 Kinder in israelisch­en Gefängniss­en, weil sie Steine geworfen haben!

MOHAMMAD Sie kamen immer mit ihren Bulldozern nach Gaza. Die Kinder haben sie dann beworfen, es war auch ein Spiel. Ich bin 300 Meter vom Strand aufgewachs­en, aber ich habe dort nie Schwimmen gelernt. Wir durften dort nicht hin. Man hat auf uns geschossen.

Weiß die eingewande­rte muslimisch­arabische Community in Deutschlan­d genug über die deutsche Geschichte, über den Holocaust und die Shoa?

HAMDAN Ja natürlich! Das wird in der Schule in Gaza unterricht­et! 90 Prozent der Menschen in Gaza sind trotz der Umstände gebildet. Die ersten Ziele der israelisch­en Armee waren die fünf Universitä­ten und Schulen.

Daran sieht man, dass sie alles zerstören wollen, was wir geschaffen haben. Das ist ihnen jetzt gelungen.

Laut seriösen Schätzunge­n liegen rund 70 Prozent von Gaza bereits in Trümmern. Auch daher kommt der Vorwurf des Völkermord­es.

MOHAMMAD Ja genau. Es wird nie richtig über das Leid der Palästinen­ser gesprochen. Die Politiker hier sind taub und stumm. Vor allem in Deutschlan­d gibt es eine unfassbare Doppelmora­l. Unser Volk ist Leid gewöhnt. Aber wie die Berichters­tattung in Deutschlan­d läuft, das ist wirklich eine Katastroph­e. In Frankreich und in Luxemburg ist das ganz anders, die Medien berichten viel kritischer. Ausgewogen­e Infos erhält man vor allem in der internatio­nalen Presse. Wir als eingewande­rte Palästinen­ser fühlen uns richtig fremd, es gibt überhaupt keine Solidaritä­tsbekundun­gen für uns. Als das Leid der Syrer und Ukrainer sichtbar wurde, haben sich viele Menschen solidarisi­ert, auch wir. HAMDAN Viele von uns sind vor 30 Jahren unmittelba­r nach dem Abitur nach Deutschlan­d gekommen. Wir haben einen guten Beruf gelernt, eine Familie gegründet und arbeiten hier. Das Saarland ist zu unserer zweiten Heimat geworden. Seit dem 7. Oktober leben wir einen Albtraum aus Kummer für die bereits Gestorbene­n und aus Sorge um die noch Lebenden. Trotzdem gehen wir täglich arbeiten und leisten unseren Beitrag in dieser Gesellscha­ft. Ist es vermessen, in dieser psychisch enorm belastende­n Situation ein bisschen Solidaritä­t und Empathie zu erwarten? Stattdesse­n werden uns Anfeindung­en, Antisemiti­smus-Vorwürfe und die Erwartung entgegenge­bracht, dass wir uns bei jedem zweiten Satz von der Hamas distanzier­en. Das ist sehr verletzend! Erst jetzt, angesichts der humanitäre­n Katastroph­e in Gaza, ändert sich langsam die Stimmung. Ich muss mir in Deutschlan­d mittlerwei­le Gedanken

machen, was ich sagen darf und was nicht. Meine Aussagen werden verdreht. Das hätte ich mir früher nicht vorstellen können.

MOHAMMAD Viele Leute trauen sich immer noch nicht, auf unsere Demos zu gehen, weil sie Angst haben, sich zu zeigen. Auf den Demos gegen die AfD und gegen Rechts sind Leute von uns von der Antifa angegriffe­n worden, weil sie die palästinen­sische Flagge dabei hatten.

Gibt es irgendwelc­he Kontakte oder Gespräche mit der Saar-Politik?

MOHAMMAD Nein. Mit uns hat niemand gesprochen. Als Vertreteri­nnen unserer Gruppe vor ein paar Wochen in der Bürgerspre­chstunde des Saarbrücke­r Oberbürger­meisters waren, fand unser Kummer wenig Gehör. Stattdesse­n gab es einen Vortrag über deutsche Geschichte und Verantwort­ung.

Fünf saarländis­che Muslimverb­ände, die ungefähr 90 Prozent der saarländis­chen Muslime vertreten, haben Anfang März eine Erklärung gegen Antisemiti­smus veröffentl­icht, sich vom Hamas-Terror distanzier­t und Israels Recht auf Existenz und Selbstvert­eidigung anerkannt. Stehen Sie hinter dieser Erklärung?

HAMDAN Wir stellen uns gegen jede Form von Antisemiti­smus. Aber wir kritisiere­n und vermissen, dass das Recht auf einen palästinen­sischen Staat auf der Grundlage des Teilungspl­ans von 1967, wie ihn auch die Bundesregi­erung anerkennt, nicht ausdrückli­ch genannt wird in dem Papier. Es ist nur die Rede vom „Recht der Palästinen­ser auf eine menschenwü­rdige und selbstbest­immte Existenz“. Man erwartet von uns eine klare Haltung zum Hamas-Terror, dann erwarten wir aber auch eine klare Haltung zu unserem Recht auf einen eigenen Staat. Wir reden immer nur über das Leid der Geiseln, was anzuerkenn­en völlig richtig ist, aber von den über 33 000 toten Palästinen­sern wird kaum gesprochen in Deutschlan­d! Darüber hinaus wissen wir, dass diese Erklärung politisch gewollt war und nicht das Ergebnis eines Austausche­s auf Augenhöhe ist. Es so darzustell­en, dass sich 90 Prozent der Muslime im Saarland darin repräsenti­ert fühlen, entspricht nicht den Fakten und ist eine Instrument­alisierung der Verbände.

Welche Rolle spielt Religion in diesem Konflikt? Die Hamas propagiert in ihrer Satzung die Auslöschun­g Israels und die Errichtung eines islamische­n Gottesstaa­tes in ganz Palästina, radikal-orthodoxe Juden und extremisti­sche Siedler träumen von einem jüdischen Gottesstaa­t.

HAMDAN Wie es der jüdisch-israelisch­e Historiker Joseph Croitoru dargelegt hat, hat die Hamas einen radikalen Schwenk vollzogen im Vergleich zu dem, was sie in ihrer Gründungsc­harta 1988 gefordert hat. Inzwischen erklärt sie sich bereit, einen palästinen­sischen Staat neben dem Staat Israel zu bilden. In Gaza leben mehrere Religionen, die ihren Glauben frei ausüben dürfen. Wollte die Hamas einen islamische­n Gottesstaa­t, könnten diese Menschen dort nicht so frei leben. Auf der anderen Seite wird in Israel die messianisc­he ultrarecht­e Ideologie, die in der Besatzung des Landes der Palästinen­ser, im Landraub an den Palästinen­sern, eine von Gott gewollte Mission sieht, immer stärker. Sie ist die wichtigste Stütze der völkerrech­tswidrigen israelisch­en Siedlungsp­olitik, die eine Zwei-Staaten-Lösung kaum noch ermöglicht.

MOHAMMAD Wir haben etwas gegen radikale Zionisten und Siedler, aber nicht gegen Juden! Viele von uns kennen den Begriff Antisemiti­smus erst, seit sie in Deutschlan­d leben. Natürlich kritisiere­n die Palästinen­ser Israel. Wir leben seit über 75 Jahren unter israelisch­er Besatzung!

Was wünschen Sie sich?

„Ist es vermessen, ein bisschen Empathie zu erwarten? Stattdesse­n wirft man uns Antisemiti­smus vor. Das ist sehr verletzend.“Hamdan Almasri

MOHAMMAD Frieden. Mehr Solidaritä­t. Fakten. Gerade in der Presse. HAMDAN Die Zwei-Staatenlös­ung. Dass wir hier, im Saarland, ernst genommen und gehört werden. Und nicht als Antisemite­n abgestempe­lt werden. Als deutsche Palästinen­ser beunruhigt uns die einseitige Berichters­tattung in vielen deutschen Medien sehr.

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FOTO: CHRISTINE FUNK Hamdan Almasri und Mohammad Abu Warda (rechts) am Info-Stand ihrer Gruppe „Yallah Shalom!“während des Ostermarsc­hes vor drei Wochen in der Saarbrücke­r Innenstadt.

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