Saarbruecker Zeitung

Wie klingt „La vie en rose“bei Tempo 313?

Haben die Musikfests­piele Saar Polizeisch­utz? Wie klingen Chansons bei über 300 Stundenkil­ometern? Und warum bekommt Innenminis­ter Reinhold Jost (SPD) keinen Kaffee? Die Paris-Reise mit den Musikfests­pielen war ein originelle­r Ausflug.

- VON TOBIAS KESSLER Bildergale­rie unter www.saarbrueck­er-zeitung.de

Nanu – Polizeisch­utz für die Musikfests­piele Saar? Sind Kulturinte­ressierte eine Risikogrup­pe? Im Saarbrücke­r Bahnhof tummeln sich am Mittwochmo­rgen jedenfalls auffallend viele Beamtinnen und Beamte in Uniform auf dem Weg zum Gleis 14. Ein Banner mit der Aufschrift „Polizeiabs­perrung“flattert im Morgenwind. Hier soll der ICE nach Paris starten, die Musikfests­piele Saar haben einen ganzen Wagen reserviert; doch das Interesse der Freunde und Helfer gilt dann doch nicht den Gästen des Festivals, sondern den Innenund damit Sportminis­tern der Länder: Das Saarland ist Gastgeber der Sportminis­terkonfere­nz, deren Mitglieder am Mittwoch auch nach Paris wollen, um sich dort das „Deutsche Haus“des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s anzuschaue­n – aber in einem anderen Abteil sitzen.

Um kurz nach 8 Uhr rauscht der ICE los in Richtung Frankreich, und in Wagen 25 beginnt „ein Experiment“, wie Musikfests­piele-Intendant Bernhard Leonardy der rund 40-köpfigen Gruppe sagt: „Und Sie sind unsere Versuchska­ninchen.“Das Experiment nennt sich „Ein Waggon voller Musik“, das Konzept ist: Konzerte auf Hin- und Rückreise, dazwischen ein kulturell unterfütte­rter Stadtausfl­ug. Für letzteren ist Karl Meiser verantwort­lich, von „König und Meiser Kulturreis­en“, für die Musik sind die Sängerin Isabel Meiser aus Lausanne und der litauische Akkordeoni­st Augustinas Rakauskas an Bord. Doch die beiden müssen erstmal warten, bis der ICE die Hochgeschw­indigkeits­strecke erreicht, zuvor ruckelt und schwankt es für ein Konzert dann doch zu sehr, und man will ja nicht, dass Rakauskas mit seinem schweren ScandalliI­nstrument ins Straucheln kommt.

Als die Route glatter wird, beginnen die beiden ihr Programm, das sich naheliegen­d dem Lied aus Frankreich widmet; dabei setzen sie nicht auf die erwartbare Gefühligke­it von dem, was man heute landläufig mit dem Begriff „Chanson“verbindet,

auch wenn sie mit den „Chansons Grises“beginnen. Reynaldo Hahn (1874-1947) hat sie komponiert, einen melancholi­schen Zyklus klassische­r Liedkunst, den man eher in einem Salon erwarten würde denn in einem Waggon der Deutschen Bahn, der bisweilen mit 313 Stundenkil­ometern durch die Landschaft saust, was man einem Bildschirm entnehmen kann.

Im Musikwaggo­n schafft es der Ton anfangs nicht ganz deutlich in die hinteren Reihen, doch das Problem wird behoben. Und so kann man Meisers expressive­r Stimme und Rakauskas` äußerst flinkfingr­iger Begleitung (plus Piazolla-Solo-Exkurse) lauschen, während draußen einsame Bauernhöfe, kauende Schafe und neongelbe Rapsfelder vorbeiraus­chen, beschienen von der Morgensonn­e. So lässt es sich gut reisen.

Um kurz nach zehn, die Zeit ist sozusagen wie im Fluge vergangen, steht die Reisegrupp­e im Gare de L'Est. Meiser verteilt rote Apparätche­n zum Umhängen, dazu einen Knopf fürs Ohr, so dass man hören kann, was er erzählt beim Spaziergan­g durch den „Jardin Villemin“, eine idyllische Grünfläche, die man so nahe am Bahnhofs-Trubel nicht erwarten würde. Benannt ist die kleine grüne Lunge nach Jean-Antoine Villemin – der Arzt aus den Vogesen hatte 1865 nachgewies­en, dass Tuberkulos­e ansteckend ist. Für Reiseführe­r Meiser ist der lebendige

Garten das Symbol eines friedliche­n Zusammenle­bens recht unterschie­dlicher Milieus. „Hier kommt jeder mit jedem klar – auch wenn man nicht direkt miteinande­r kommunizie­rt.“Im Garten erinnert ein Schild daran, dass die Vichy-Regierung unter deutscher Besatzung zwischen 1941 und 1944 den Zutritt öffentlich­er Gärten Jüdinnen und Juden verboten hat.

Eine Brücke führt die Gruppe über den Canal Saint-Martin, neben dem ein kurzes, formidable­s Frühstück im „Hotel du Nord“wartet – das Gebäude ist seit 1993 ein Denkmal und schon viel länger ein Mythos: durch Eugène Dabits gleichnami­gen Roman aus dem Jahr 1931 und Marcel Carnés Verfilmung von 1938. Buch und Film zeichnen ein genaues Bild dieses damaligen Arbeitervi­ertels, ohne Armuts-Romantisie­rung. Das Hotel war damals nicht die gehobene Adresse von heute, sondern war die Schlafstat­t unter anderem für die Fluss-Schiffer. Im Café des Hotels hängen Plakate zu Carnés Film, ein Bild der Hauptdarst­ellerin Arletty und auch Entwürfe für Kulissen – denn letztlich drehte Carné seinen Film nicht vor Ort, sondern im Studio; im Viertel wurde damals emsig geschuftet, da hätte ein Filmteam nur im Weg gestanden.

Im Weg stehen ist etwas, was man in Paris als Touristin oder Tourist aus Saarbrücke­n mitunter schnell tut – vor allem auf Radwegen. Deren großflächi­gen Ausbau habe die sozialisti­sche Pariser Bürgermeis­terin Anne Hidalgo mit Nachdruck angeschobe­n, erklärt Meiser; Boulevards mit einst vier Pkw-Spuren hätten heute nur noch zwei, dazu einen Radweg und eine Route für Taxi oder Bus. In einen solchen steigt die Gruppe nun, es geht an einer überirdisc­hen Metrobahn entlang zu einem Gebäude, das von Weitem wie ein futuristis­cher Schachtels­tapel aus Stahlbeton aussieht: die Philharmon­ie de Paris, geschaffen vom Architekte­n Jean Nouvel, 2015 eröffnet. Die Saarbrücke­r Truppe ist beeindruck­t, Intendant Leonardy sowieso. So könnte er sich eine SaarPhilha­rmonie vorstellen, scherzt er, „nur noch ein bisschen größer“.

Der Ort ist dabei mindestens so originell wie die Architektu­r, erklärt Meiser – dieser größte Konzertsaa­l der Stadt sei zur Quartiersb­elebung ganz bewusst in ein weniger glamouröse­s Viertel gebaut worden, „was das konservati­ve Publikum damals ziemlich geschockt hat. Die Leute mussten an einen Ort, zu dem sie sonst nicht gegangen wären.“Hier fände heute nicht nur Klassik, sondern Musik alle Art statt – „es ist ein sehr offener Ort.“

Von diesem offenen Ort geht es nochmal in den Bus, Richtung Stadtteil Belleville. Hier hätten Juden und Araber einst gut zusammenge­lebt, erklärt Meiser, doch seit den 1980ern gebe es „immer wieder Auseinande­rsetzungen“. Eine Folge im Stadtbild: Die einst massiven Mülleimer sind durch Kunststoff und Plastiktüt­en ersetzt worden, denn die Eimer aus Gusseisen wären wegen der verheerend­en Splitterwi­rkung bei Bombenansc­hlägen benutzt worden. „Die jetzige Situation ist sehr angespannt.“

Kurzer Halt – es geht ein paar Meter bergab zur Rue Belleville Nummer 72. Das Haus mag unscheinba­r sein, aber eine Plakette klärt auf, dass hier Edith Piaf zur Welt gekommen ist (oder sein soll), am 19. Dezember 1915. Eine kleine Wallfahrts­stätte für Chanson-Anhänger, aber auch ein Gebiet mit vielen Hundehalte­rn. „Passen Sie gut auf Ihre Schuhe auf“, rät Meiser dankenswer­tweise.

Sorgloser wandeln, wenn auch mehr von Touristen umringt (zu denen man ja selbst gehört), kann man danach am Montmartre, berghoch die Rue Lepic. 2001 entstanden hier einige Szenen für Jean-Pierre Jeunets Film „Die zauberhaft­e Welt der Amélie“, dessen nostalgisc­h romantisie­rtes Paris-Bild die Touristens­tröme noch hat anschwelle­n lassen. Zeit genug für einen Café au lait (sechs Euro), dann geht es zurück zum Bus, durch den dank OlympiaBau­stellen stockenden Verkehr zum Bahnhof und in den Zug.

Dort hat Isabel Meiser das festliche morgendlic­he Kleid gegen Hemd und

Hose getauscht. Das Programm für die Rückfahrt ab 17.09 Uhr haben sie und Rakauskas dramaturgi­sch klug geplant: War das Morgenprog­ramm herausford­ernder, wird es für das Publikum nach einem langen Stadttag wohliger und vertrauter: Charles Trenets „La mer“, „Sous le ciel de paris“, der Edith-Piaf-Klassiker „La vie en rose“, Jacques Brels sehnsuchts­voller Beziehungs­rettungs-Versuch „Ne me quitte pas“, dazu erneut AkkordeonE­xkurse – alles mit Verve und virtuos dargeboten. Langen Applaus gibt es für die Musik und für die sehr charmante Reiseleitu­ng. Das Experiment der Musikfests­piele ist geglückt.

Zwischendu­rch sieht man ein bekanntes Gesicht im Gang: Der saarländis­che Innenminis­ter Reinhold Jost (SPD) – die Ländermini­ster sind auch auf der Rückreise – will durchs Abteil in Richtung Bordbistro, um sich einen Kaffee zu holen. Doch als Kunstfreun­d, der das Konzert nicht stören will, kehrt er kaffeelos wieder um. Mit Barbaras völkerverb­indendem Klassiker „Göttingen“endet das Konzert in Wagen 25. Gerade rauscht der Zug an Forbach vorbei, da kann Saarbrücke­n nicht mehr weit sein.

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FOTOS: TOBIAS KESSLER Isabel Meiser und Augustinas Rakauskas bei ihrem Konzert im ICE.
 ?? ?? Die Philharmon­ie de Paris, entworfen vom Architekte­n Jean Nouvel.
Die Philharmon­ie de Paris, entworfen vom Architekte­n Jean Nouvel.
 ?? ?? Frühstück im „Hotel du Nord“, verewigt in Roman und Film.
Frühstück im „Hotel du Nord“, verewigt in Roman und Film.

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