Der Präsident, das Land und das „Wir“-Gefühl
Frank-Walter Steinmeier hat ein Buch über den Zusammenhalt in Staat und Gesellschaft geschrieben. Er appelliert, den Staat nicht prinzipiell als Feind zu sehen.
Eine Kleinstadt in Thüringen. Der Bundespräsident ist da. Er spricht über ein „besonderes Jahr“: 2024. Ein Jahr mit einem „Doppel-Jubiläum“: 75 Jahre Grundgesetz und 35 Jahre Mauerfall. Da hört er: „Ach, ein Jubiläum Ost und ein Jubiläum West.“Frank-Walter Steinmeier sagt, er habe „eine ganze Weile gebraucht, bis ich die Botschaft zwischen den Zeilen kapiert habe“. Eine Deutung: Was habe der Osten mit den 75 Jahren zu tun, die der Westen dann 40 Jahre mit dem Grundgesetz, aber eben ohne den Osten verbracht habe? Und: Was habe der Westen eigentlich mit der friedlichen Revolution im Osten und dem Mauerfall zu tun?
Für Steinmeier war die Szene Auslöser, eine Frage zu stellen: Wer sind wir? Wir in Deutschland. Daraus ist ein Buch geworden mit dem Titel „Wir“. Auf 142 Seiten geht der Bundespräsident der Frage nach, was das Land zusammenhält. Unter anderem betont der erste Mann im Staate: „Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, den Staat nicht prinzipiell als Feind zu sehen. Gerade eine moderne Gesellschaft braucht einheitsstiftende Institutionen. Das ist nicht der Staat alleine, aber der Staat gehört dazu.“
Während das Buch nun seit Montag im Handel ist, befindet sich Steinmeier selbst auf einer Reise zu einem schwierigen Partner, dessen
Landsleute auch ihren Teil zu dem „Wir“beigetragen haben. Der Bundespräsident reist drei Tage durch die Türkei und würdigt dabei auch jene Gastarbeiter und ihre Familien, die 1961 nach Abschluss des Anwerbeabkommens nach Deutschland kamen (siehe Text oben). Auch Teil des großen „Wir“, über das sich Steinmeier Gedanken gemacht hat.
Das Jahr 1989 beschreibt Steinmeier als „ein Schlüsselerlebnis im politischen Leben meiner Generation“. Es sei ein Ereignis gewesen, das offenkundig keinem Geschichtsplan gehorcht habe, sondern es sei „das Werk von couragierten Menschen“gewesen, die für freies Reisen, freie Wahlen und freie Meinungen auf die
Straßen und Plätze gegangen seien. Es folgten Gorbatschow, zweiter Golfkrieg, Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien, ethnische Säuberungen, Genozid in Ruanda, Terroranschläge 2001 in den USA und anderswo, rechtsextremistische Anschläge in Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln. Auch damals stand die Welt nicht still – nicht in Deutschland, nicht in Europa. Das „Wir“suchte nach einem Anker.
Und dann eben der „Epochenbruch“vom 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel. Putins Angriff richte sich gegen alles, „was wir Deutschen seit 1945 aus unserer Geschichte gemacht haben. Auch deswegen wühlt er uns auf“.
Steinmeier schickt ein Plädoyer für den Rechtsstaat, der die Menschenund Bürgerrechte eines jeden schütze, ins Land, für die Bundesrepublik, wie sie heute sei. Der Staat sei nichts „Fremdes oder gar Feindliches, sondern als Ausdruck des gemeinsamen Bemühens aller“zu verstehen. Es brauche eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, „die diese Republik zu ihrer Sache machen, die sich in Worten und Wahlen schützend vor ihre Institutionen stellen“. Steinmeier hatte sich dazu noch Ende Februar dafür ausgesprochen, das Bundesverfassungsgericht gegen Verfassungsfeinde „wetterfest“zu machen. „Deshalb halte ich den Gedanken für richtig, Regelungen für die Struktur des Gerichts, das Wahlverfahren, die Amtszeiten der Richter ins Grundgesetz aufzunehmen. Regelungen, die dann auch nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden können.“
Steinmeier schreibt auf der letzten Seite seines Buches nicht: „Wir schaffen das.“Dieser Satz gehört Angela Merkel. Er schreibt: „Uns gemeinsam ist vieles geglückt.“Jede Generation habe ihre Herausforderungen gehabt und sie gemeistert. „Ich vertraue auf die demokratische Mehrheit, die Deutschland trägt. Unsere freiheitliche Demokratie wird die Jahre der Bewährung überstehen.“Er könnte auch sagen: Das „Wir“gewinnt.