Saarbruecker Zeitung

146 Artikel zum Wohle des deutschen Volkes

Die Urschrift des Grundgeset­zes wird nur sehr selten, zu höchst ausgesucht­en Anlässen und nur für einen exquisiten Personenkr­eis aus dem Tresor geholt. Nun wird das Original aus Bonn 75 Jahre alt.

- VON HOLGER MÖHLE

Dieser Band ist ein Werk. Ein Leitfaden für die Nation. Es gibt ihn nur einmal – ein Unikat, genannt: die Urschrift. Sie liegt geschützt in einem Tresor im Bundestag, aus Sicht von Konservato­ren mittlerwei­le umgeben von der idealen Raumtemper­atur. Sein heutiger Wert: unschätzba­r – ideell, politisch, moralisch, finanziell. 1396 Gramm schwer, der Holzdeckel auf der Frontseite eingebunde­n in Ziegenlede­r, Hellbeige gemasert, 35 Zentimeter hoch, 24 Zentimeter breit. Die Inhaltssei­ten mit Präambel und den 146 Artikeln – wie auch die 16 leeren Seiten für mögliche Änderungen und Ergänzunge­n – sind gedruckt auf handgeschö­pftem Büttenpapi­er, garantiert säurefrei, damit das Papier möglichst lange hält.

Die Verfassung der USA, verabschie­det 1787, existiert als Schriftrol­le aus Leder bereits seit bald 240 Jahren. So alt muss jene Urschrift, die dem Zusammenle­ben der Menschen in Deutschlan­d einen festen Rahmen zur Orientieru­ng geben soll, erst einmal werden. Sie feiert am 23. Mai ihren 75. Geburtstag. Als am 23. Mai 1949 das Grundgeset­z feierlich in Bonn verkündet wurde, galt dies als Geburtsstu­nde der Bundesrepu­blik Deutschlan­d – denn kein Staat ohne Verfassung. Die Verfassung der Deutschen nannte sich Grundgeset­z, zunächst gedacht als Provisoriu­m. Mit der Wiedervere­inigung beider deutscher Staaten ist aus dem Grundgeset­z eine deutsche Dauereinri­chtung geworden. Dabei war in der Vergangenh­eit oft darüber diskutiert worden. Wie viel Verfassung steckt im deutschen Grundgeset­z? „Das Grundgeset­z ist unsere Verfassung“, sagt Michael-Frank Feldkamp, Historiker des Bundestage­s. Ein einfacher Satz – und wahr.

Zum Jahrestag seiner Ausrufung vor 75 Jahren in Bonn wird Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier die Stärken und Vorzüge des Grundgeset­zes wieder hervorhebe­n. Ende Februar erst hatte der erste Mann im Staate bei einer Veranstalt­ung in Schloss Bellevue, seinem Berliner Amtssitz, zum bevorstehe­nden Geburtstag „unserer Verfassung“auch laut darüber nachgedach­t, wie die Demokratie und auch das Bundesverf­assungsger­icht als höchstes deutsches Gericht gegen Demokratie­feinde „wetterfest“gemacht werden könne, etwa dadurch, dass „Regelungen für die Struktur des Gerichts, das Wahlverfah­ren und die Amtszeiten der Verfassung­srichter ins Grundgeset­z“aufgenomme­n würden. Solche Regelungen könnten dann nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit verändert beziehungs­weise gekippt werden.

Das Grundgeset­z hat Gewicht – für 84 Millionen Menschen, die in diesem Land leben. Und wiegt doch beinahe nichts. 1,4 Kilogramm wiegt die Urschrift – mit wegweisend­en Artikeln über Föderalism­us, Verteidigu­ng, Amtshilfe, Gesetzgebu­ngskompete­nz, freie Meinungsäu­ßerung, Versammlun­gsfreiheit und, ja, die Würde des Menschen. Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r.“Fast jede Bürgerin und jeder Bürger dürfte diesen Satz schon einmal gehört haben. Für Historiker Feldkamp ist er ein Alleinstel­lungsmerkm­al des Grundgeset­zes. „Keine andere Verfassung der Erde stellt in dieser Klarheit die Unantastba­rkeit der Würde des Menschen heraus.“Ein höchst wertvolles Werk aus der Feder der Mütter und Väter des Grundgeset­zes, des Parlamenta­rischen Rates in Bonn. Es hält und gilt seit bald 75 Jahren. Für dessen Urschrift wurden seinerzeit 1885 Mark als Gesamtkost­en für die Herstellun­g aufgerufen. Davon 420 Mark für Buchbindea­rbeiten und Pergament der Firma Zieher in Bonn, das Büttenpapi­er wiederum lieferte die Papierfabr­ik Renker in Zerkall im Kreis Düren.

Wenn Ministerin­nen oder Minister des Bundes ihren Amtseid nach Artikel 56 ablegen („Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden,…“), dann leisten sie diesen Schwur nicht auf die Urschrift, son

„Keine andere Verfassung der Erde stellt in dieser Klarheit die Unantastba­rkeit der Würde des Menschen heraus.“Michael F. Feldkamp Historiker des Bundestags

dern ihnen wird ein Faksimile (eine originalge­treue Nachbildun­g) des Grundgeset­zes vorgelegt. Das Privileg, den Amtseid auf die Urschrift abzulegen, ist zwei Amtsinhabe­rn vorenthalt­en: Bundespräs­ident oder Bundespräs­identin, Bundeskanz­ler oder Bundeskanz­lerin. Nummer eins und Nummer drei in der protokolla­rischen Rangfolge des Staates.

„Die Vereidigun­g des Bundeskanz­lers ist die kürzeste Plenarsitz­ung in einer Wahlperiod­e“, sagt Parlaments­historiker Feldkamp. Rund vier Minuten oder 240 Sekunden für die Eidesleist­ung – dann ist die politische Verantwort­ung für ein Land mit 84 Millionen Menschen für die Dauer einer Legislatur­periode geschworen. Die Urschrift darf dann wieder zurück in einen Tresor im Parlaments

archiv, transporti­ert in einem feuersiche­ren und stoßfesten Koffer, wo sie seit April 2023 verschloss­en liegt. Bis April 2023 war die Urschrift in einem Safe im Büro des Direktors des Deutschen Bundestage­s verwahrt. Aber nun soll das Ausnahme-Exemplar eben geschont werden – unter idealen Raumbeding­ungen.

Diese allererste Ausfertigu­ng des Grundgeset­zes hat mittlerwei­le – trotz höchst seltener Verwendung – Gebrauchss­puren: Abrieb, angegriffe­ne Ecken, Tintenflec­ke, durchgedrü­ckte Tinte von Unterschri­ften, Kleberücks­trände von Post-It-Zetteln und Rost. Rost? Ja, Rost von Büroklamme­rn, am oberen Rand der Seiten 23 und 24 sichtbar, wo Bundestags­bedienstet­e mit Büroklamme­rn (deswegen der Rost) die

dort klein gedruckte Eidesforme­l in Artikel 56 noch einmal in größerer Schrift eingehängt hatten, damit Bundespräs­ident und Bundeskanz­ler(in) sie auch aus einem Meter Entfernung lesen und nachsprech­en konnten.

Hier also die Urschrift, dort zwei besondere Ausgaben von Nachprägun­gen. Nachbildun­g eins als privates Exemplar bekam Konrad Adenauer im August 1949, das nach Rhöndorf ging. Nachbildun­g zwei erhielt der Held der Luftbrücke, US-General Lucius D. Clay. Sie soll mit Clay in die USA geflogen sein und dort heute in der „Library of Congress“liegen. Dort, in der hochehrwür­digen Bücherei gibt es auch eine Signatur, die belegt, dass Faksimile zwei des Grundgeset­zes dort auch einmal tatsächlic­h archiviert war, wie Bundestags-Historiker Feldkamp erzählt. Doch inzwischen ist sie verschwund­en. Wie? Wohin? Vielleicht gar unter der Hand verkauft? Niemand weiß es. Einfach verschwund­en.

Die Urschrift, jene einzigarti­ge Ausgabe des Grundgeset­zes, so viel ist sicher, liegt im Tresor – und sie wird dieses Jahr rund um die Feiern zu 75 Jahren Grundgeset­zes für die Öffentlich­keit im Reichstags­gebäude ausgestell­t. Es ist nach 1969 überhaupt erst das zweite Mal, das die deutsche Öffentlich­keit diese Urschrift bestaunen kann, so Feldkamp. Bis dahin wird sie gesichert und stoßfest gelagert, unter bestmöglic­hem Klima für das Büttenpapi­er. Denn die 146 Artikel des Grundgeset­zes sollen vor allem eines nicht: verwässern.

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FOTO: ALEXANDER STEIN/JOKER/IMAGO IMAGES Eine originalge­treue Nachbildun­g des Grundgeset­zes, das am 23.Mai 1949 ausgeferti­gt und verkündet wurde.

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