Saarbruecker Zeitung

Das Gute, das Böse und der Campingpla­tz

In „Evil does not exist“prallen Stadt und Land, Kapitalism­us und Genügsamke­it aufeinande­r. Der herausrage­nde Film läuft in Saarbrücke­n und St. Ingbert.

- VON TOBIAS KESSLER

Beginnen wir mit dem Ende. Das wird überrasche­n, verstören, vielleicht ratlos zurücklass­en. Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi ist eben kein Mann eines formelhaft­en oder überraschu­ngsarmen Kinos. Sein oscarprämi­erter Vorgängerf­ilm „Drive my Car“war ein dialogreic­hes Drama, in dem er seinen Figuren auf den Grund ging und sich dafür drei Stunden KinoZeit nahm, die einem nicht zu lange erschienen.

„Evil does not exist“nun zieht einen sogartig sofort hinein, mit einer Fahrt der Kamera, die Baumwipfel von unten zeigt, so als schaue man beim Wandern unentwegt nach oben – oder als werde man auf dem Rücken liegend durch den Wald getragen, auf einer Bahre vielleicht, oder in einem offenen Sarg. Knapp vier Minuten ohne Schnitt und mit konstanter Unten-nach-oben-Perspektiv­e zeigt der Film die Natur, begleitet von einer Streicherm­usik, die so schön wie melancholi­sch ist. So zart wie kraftvoll. Hier am Waldrand leben Takumi und seine Tochter Hana, sie sind Teil der Gemeinscha­ft des Dorfes Mizubiki – nicht allzu weit entfernt von Tokio, aber doch wie in einer anderen Welt.

Das Leben hier ist ruhig und steht im Einklang mit der Natur, so gut es eben geht, wenn Menschen im Spiel sind. Takumi, der sich selbst als

„Handlanger“bezeichnet, schöpft reinstes Quellwasse­r in einen Kanister – das Lokal des Dorfs nutzt es für den Nudelteig – und pflückt dafür auch wilden Wasabi. Am Nachmittag holt er seine Tochter von der Schule ab; wenn er zu spät kommt, was öfter passiert, wandert sie durch den Wald nach Hause. Die beiden sind, das darf man annehmen, glücklich mit diesem Alltag, diesem Gleichlauf der Dinge.

Doch der droht aus dem Rhythmus zu kommen: Eine Firma in Tokio plant hier ein „Glamping“Gebiet, einen luxuriösen Campingpla­tz. Das Dorf ist beunruhigt – bisher ist man ohne erholungsb­edürftige Städter sehr gut ausgekomme­n; die Auswirkung­en auf die Natur sind nicht absehbar – und die Informatio­nen der „Glamping“

Planer weder völlig glaubhaft noch detaillier­t durchdacht.

Regisseur/Autor Hamaguchi lässt hier, vereinfach­t gesagt, Großstadt auf Dorf prallen, urbane Hektik auf

ländliche Ruhe, ungebremst­en Kapitalism­us auf gebremstes Interesse an Kapital. Nur: „Evil does not exist“ist dabei weder simple Öko-Parabel noch schlichte Kapititali­smus-Kritik. Das Böse an sich gibt es nicht, sagt uns der Filmtitel (sofern man

ihm glauben mag); wobei das „not“im Vorspann mit knalligem Rot betont wird. Was aber nicht bedeutet, dass niemand etwas Böses tut, je nach den Umständen.

Die beiden „Glamping“-Abgesandte­n aus Tokio sind keine Unmenschen, sondern einfach kleine Rädchen im großen Prozess. In der zentralen Szene, als die beiden ihr Projekt vorstellen, werden sie von den Bewohnern verbal auseinande­rgenommen – jede Frage, ob nach dem Standort des Klärtanks oder den Arbeitszei­ten des Campingpla­tzwächters, trifft ins Schwarze. Die Firma hat allzu hektisch geplant, drängt doch die Zeit, da sie noch ein paar Corona-Zuschüsse abgreifen will. Es ist ein filmisches Kabinettst­ück, wie hier eine scheinbar schlichte Sequenz in einem mausgrauen Gemeindehä­uschen, wo (meist) in aller Ruhe unter anderem über Kläranlage­n diskutiert wird, zu einer enorm aufregende­n, viertelstü­ndigen Szene wird; jedes Wort, jeder Blick zählt.

Auf Anweisung des „Glamping“Chefs in Tokio versuchen die Gesandten, den „Handlanger“Takumi sozusagen mit ins Boot zu nehmen und bieten ihm eine Stelle am Campingpla­tz an. Doch die Situation ändert sich schlagarti­g und führt zu jenem Ende, über das man lange grübeln kann. Ob man dieses nun für gelungen hält oder nicht: „Evil does not exist“ist ein herausrage­nder Film, der bei aller Betrachtun­g der Natur keiner Öko-Romantik verfällt – anders als ein „Glamping“-Abgesandte­r, für den in einer tragikomis­chen Szene der kurze Akt des Holzhacken­s zu einem Erweckungs­erlebnis wird: Fortan will er sein Leben abseits der Großstadt in der Natur verbringen.

Entstanden ist der Film ungewöhnli­ch: Hamaguchi hatte ursprüngli­ch geplant, nur Naturszene­n als Bebilderun­g für eine Performanc­e der Komponiste­n Eiko Ishibashi aufzunehme­n. Das Projekt wuchs, er schrieb ein Drehbuch – das Ergebnis waren dann die Performanc­e-Unterlegun­g „Gift“und der Spielfilm „Evil does not exist“. Ishibashis Musik ist im Film nicht oft eingesetzt, aber wenn, dann mit Wucht, nicht als Bild-Illustrier­ung, sondern eher als tragisch umflorter Kommentar, vielleicht als Verkörperu­ng der Natur selbst? Beim Anfang des Films jedenfalls reißt sie schlagarti­g ab — sobald ein Mensch ins Bild kommt.

läuft im Saarbrücke­r Filmhaus, außerdem am Sonntag, 19 Uhr, in der Kinowerkst­att St. Ingbert. Hamaguchis Film „Drive my car“ist zurzeit in der Mediathek von Arte zu sehen.

 ?? ?? Mit „Drive my car“gewann er 2022 einen Oscar: der japanische Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi (45).
Mit „Drive my car“gewann er 2022 einen Oscar: der japanische Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi (45).
 ?? FOTOS: PANDORA FILM ?? Vater Takumi (Hitoshi Omika) und Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur, die ihr Dorf umschließt.
FOTOS: PANDORA FILM Vater Takumi (Hitoshi Omika) und Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur, die ihr Dorf umschließt.

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