„Ich lese zuerst das Ende, dann bin ich entlastet“
Die Autorin liest am Montag in Saarbrücken aus ihrem Bestseller „Identitti“. Wir haben mit ihr über den Irrwitz von Identitätswirren gesprochen.
Skandalöse Enthüllung an einer deutschen Uni: Die Super-Professorin, die vorgab, indisch zu sein, ist weiß! Das Internet dreht durch, ihre Studierenden, deren Familien wirklich eingewandert sind, sind verletzt. Was nun? „Identitti“ist das Romandebüt von Kulturwissenschaftlerin und Autorin Mithu Sanyal, das 2021 Chancen auf den Deutschen Buchpreis hatte. Am Montag kommt sie für die Reihe „Literatur der Transformation“zur ausverkauften Lesung ins Saarländische Staatstheater. Wir haben mit ihr vorab über Identitätswirren und kulturelle Aneignung gesprochen, über obsessives Lesen und ihren nächsten Roman.
„Identitti“erzählt von Nivedita, einer Person of Color mit deutscher Mutter und indischem Vater, die unter dem Zauber ihrer charismatischen Professorin Saraswati steht. Hatten Sie in Ihrer Studienzeit in Düsseldorf eine charismatische Professorin?
SANYAL Die Geisteswissenschaften waren in den frühen 90ern noch sehr männlich und People of Colour haben, soweit ich mich erinnern kann, gar nicht unterrichtet. Diese Figur zu schreiben war wie eine Wunscherfüllung und mit all ihren Schattenseiten, nach dem Motto: Hab Angst vor dem, was du dir wünschst.
Haben Sie Verständnis, dass Nivedita in den Bann der Super-Professorin gerät?
SANYAL Klar. In diesem Alter sucht man nach Rollenmodellen, die gerade für Leute wie Nivedita radikal gefehlt haben. Wenn es ganz viele Vorbilder für sie gäbe, könnte sie ja auswählen und vor allem müsste eine nicht alles abdecken. So hat das Verhältnis von Nivedita zu ihrer Mentorin auch toxische Aspekte. Aber in jedem Mentorinnen-Mentee-Verhältnis kommt irgendwann der Moment der Entzauberung, in dem man über die Mentorin hinauswächst.
Es kommt heraus, dass die Professorin weiß ist. Nivedita will Antworten, der Roman wird zum Kammerspiel. Warum dieses Setting?
SANYAL Ich wollte beschreiben, wie es sich anfühlt, als Mixed Race Person in Deutschland aufzuwachsen. Ich hatte damit begonnen, als ich 2015 von Rachel Dolezal gehört habe, einer schwarzen Universitätsdozentin und Bürgerrechtlerin in den USA, die in Wirklichkeit weiß ist. Ich war sehr bewegt: Alle Vorwürfe, die ihr gemacht wurden, waren Fragen, die ich an mich selbst kannte – wer bist du? Wer bist du wirklich? Kannst Du beweisen, dass du bist? Sobald ich die Figur der Professorin hatte, erzählte sich die Geschichte plötzlich wie von selbst. Mir geht es nicht darum: Ist die Professorin braun/ist sie weiß? Mir geht es darum, welche Auswirkungen das auf die Figuren hat. Deshalb steht die Enthüllung nicht wie bei einem Krimi am Ende, sondern am Anfang. Dazu kam der Gedanke, dass sie sich drei Wochen in der Wohnung von Saraswati nur damit auseinanderzusetzen, wie in einer Blase. Das spiegelt, wie diese Debatten im Internet und in sozialen Medien geführt werden. In der Bubble ist das Problem unglaublich wichtig, außerhalb davon geht das Leben weiter. Und beide Wahrnehmungen stimmen.
Saraswati rechtfertigt ihr Tun auch mit der umstrittenen These von Trans-Race, dass man sich einer anderen Hautfarbe zugehörig fühlen und sie annehmen kann. Hat Ihr Buch diese Debatte verändert? SANYAL Vor dem Buch gab es viele Fälle von Menschen, die eine Identität vorgegeben haben und deren Enthüllungen prominent durch die Medien gingen. Mir ging es nicht darum, über diese Menschen zu urteilen. Ich wollte über Lebenserfahrungen von Mixed Race Personen schreiben, weil das in der deutschsprachigen Literatur bisher noch nicht prominent getan worden ist. Aber mein Buch ist natürlich als Beitrag zu der Debatte um cultural appropriation gelesen worden, um die Diskussion darum, wer wen spielen oder übersetzen darf. Wir führen diese Debatten als Symptome für andere Fragen. Hinter „Wer darf wen spielen“steht die Frage, warum das Theater mehrheitlich weiß ist und ob wir nicht einen größeren Zugang haben müssen? Auf dieses „Wer darf?“gibt es keine richtige Antwort, weil es eine Ablenkung ist. Aber dadurch, dass das in den Medien diskutiert wurde, fiel auf, dass sich grundsätzlich etwas ändern muss. Plötzlich ging es darum, den Kulturbetrieb zu dekolonialisieren. Und dann kam der Krieg in Gaza, und damit scheint diese Debatte wieder beendet zu sein, weil plötzlich postkoloniale Theorie mit Antisemitismus gleichgesetzt wird. Das ist natürlich Quatsch. Postkoloniale Theorie ist ein Universitätszweig, kein Parteibuch, man kann natürlich einzelne
Texte kritisieren. Das wäre, wie wenn Philosophie als antisemitisch gelten würde, weil es philosophische Texte gibt, die es sind. Im Moment hat man große Berührungsangst mit Postkolonialismus. Ich hoffe, dass dieses Misstrauen nicht langfristig sein wird und dass Fragen um Rassismus im Literaturbetrieb, um Repräsentation und Vielfalt trotzdem weiter diskutiert werden.
Nivedita führt Gespräche mit der Göttin Kali. Wie entstand die Idee?
SANYALDer erste Blockeintrag von Nivedita war das Erste, das ich für den Roman geschrieben habe. Da waren Kali und ihre Stimme bereits da. Die hinduistische Göttin Kali ist sehr vielschichtig, sie unterwandert unsere Vorstellungen von Gottheit, also sie ist weiblich und schwarz und gewalttätig und sie liegt beim Sex oben. Sie ist die einzige Repräsentation von indischer Weiblichkeit, mit
der ich zum Beispiel auch groß geworden bin, die nicht diese schweigende, lächelnde Hyperweiblichkeit repräsentiert. Wenn Nivedita indisch sein wollte, konnte sie nicht selbstbestimmt und links sein, weil ihr von ihrer indischen Familie gesagt wurde, sie sei verwestlicht, was natürlich Quatsch ist. Und wenn sie queer und wütend sein wollte, musste sie ihren indischen Teil abschneiden. Nur Kali war die einzige Repräsentantin einer anderen Vorstellung von Indischsein. Außerdem ist Kali ein zentrales Motiv im indischen Feminismus und in der antikolonialen Auseinandersetzung. Und natürlich sind die Gespräche mit Kali eine Verneigung vor Salman Rushdie und dem magischen Realismus.
Für wen haben Sie „Identitti“geschrieben?
SANYAL Ich habe es für Menschen wie Nivedita geschrieben, weil es
in der deutschsprachigen Literatur bisher kein Buch gab, dass die Erfahrung von being Mixed Raced in dieser Form ins Zentrum stellt. Für mich war es sehr überwältigend, wie viele Menschen mir danach geschrieben haben, dass sie sich das erste Mal in der deutschsprachigen Literatur repräsentiert fühlen. Aber es ist natürlich für alle Leserinnen und Leser geschrieben, weil wir alle ja diese Erfahrung kennen, nicht wirklich in die Welt hineinzupassen.
Manche sehen das Buch als „engagierte Literatur“, andere als „Selbstermächtigungslektüre“. Was sagen Sie?
SANYAL Beim Schreiben eines Romans geht es immer um vieles. Mich hätte es glücklich gemacht, wenn mehr über die Ästhetik des Romans geschrieben worden wäre und weniger ausschließlich über Identitätspolitik. Es ist ja kein Sachbuch. Aber wenn eine Person wie ich einen Roman über bestimmte Themen schreibt, wird es immer als politisch wahrgenommen. Ich bin eine politisch denkende Person, und viele Stimmen einzubauen ist zwar eine politische Methode, aber in erster Linie eine ästhetische. Ich habe einen Roman geschrieben, um eine Lebenserfahrung zu schildern. Es ist keine Agitprop-Literatur. Ich will die Leute damit nicht dazu bringen, Dinge anders zu sehen.
Es ist ein Roman mit bitteren Stellen. Aber man kann auch oft lachen. Warum diese auch humorvolle Herangehensweise?
SANYAL Humor war für mich sehr zentral. Auch, damit die bitteren Stellen nicht als melodramatisch wahrgenommen werden. Außerdem ist Nivedita keine tragische Figur. Mir ging es natürlich nicht darum, über Leute wie Nivedita zu lachen, sondern dass wir alle in einem Boot sitzen und über dieses merkwürdige Phänomen Rassismus lachen, der überhaupt keinen Sinn macht. Und persönlich mag ich Romane mit Humor, davon hat es in der deutschsprachigen Literatur nicht zu viele. In meinem nächsten Roman, der im September erscheint, gibt es auch viel Humor, obwohl die Themen noch mal schwerer sind.
Sie sagten, Sie sind eine obsessive Leserin: Was raten Sie Menschen, die gierig lesen?
SANYAL Ich lese zuerst das Ende, dann bin ich entlastet. Meinen Mann macht das bei Krimis fertig. Ich habe nämlich die wunderbare Situation, dass mein Mann mir jeden Abend lange vorliest. Man nimmt Bücher, die einem vorgelesen werden, anders wahr. Wenn ich das Ende kenne, kann ich mich auf die Erzähltechniken konzentrieren. Klar ist es toll, herauszufinden, wer der Mörder war. Aber es ist auch toll zu erfahren, wie wir da hingeführt werden. Die Qualität eines Buches erfahre ich, wenn ich das Ende kenne und es trotzdem lesen will.
Machen Sie das bei allen Büchern oder nur bei Krimis?
SANYAL Ja, selbst bei Sachbüchern habe ich schon geschaut, wohin der Text führt.
Mithu Sanyal: „Identitti“, 432 Seiten, 22 Euro; „Antichristie“, 400 Seiten, 24 Euro, voraussichtlich ab 17. September; beide im Hanser Verlag. „Mithu Sanyal über Emily Brontë“, 160 Seiten, 22 Euro, Kiepenheuer & Witsch.