Saarbruecker Zeitung

Documenta-Neuaufstel­lung – Ist die Schau bereit für die Zukunft?

Bei der nächsten Documenta sollen Skandale wie der Antisemiti­smus-Eklat verhindert werden. Dazu wurden Beschlüsse über umstritten­e Verhaltens­kodexe gefasst.

- Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r, Markus Renz

(dpa) Kein Verhaltens­kodex für die Künstleris­che Leitung, stattdesse­n eine öffentlich­e Veranstalt­ung mit Stellungna­hme der Kuratoren zu ihrem Menschenbi­ld. So soll bei der kommenden Documenta ein erneuter Eklat nach den Antisemiti­smus-Vorfällen auf der vergangene­n Weltkunsts­chau in Kassel verhindert werden.

Zur Aufarbeitu­ng des Antisemiti­smus-Debakels auf der „Documenta fifteen“im Sommer 2022 hatte der Aufsichtsr­at der Documenta gGmbH eine Management­beratung mit einer Organisati­onsuntersu­chung beauftragt. Diese empfahl unter anderem die Geschäftsl­eitung sowie die Künstleris­chen Leitung der documenta auf Verhaltens­kodexe, sogenannte­n Codes of Conduct, zu verpflicht­en, die den Schutz der Menschenwü­rde sowie der Kunstfreih­eit gewährleis­ten sollten.

Besonders gegen einen Verhaltens­kodex für die Künstleris­che Leitung hatte es im Vorfeld Widerstand gegeben. So sah etwa die Initiative „#standwithd­ocumenta“, die unter anderen von den ehemaligen Kasseler Oberbürger­meistern Hans Eichel, Bertram Hilgen und Wolfram Bremeier sowie den Documenta-Künstlern Gunnar Richter,

Gernot Minke und Horst Hoheisel unterstütz­t wird, dadurch die Kunstfreih­eit gefährdet. Eine von ihr initiierte Petition gegen Versuche politische­r Einflussna­hme auf die Documenta unterschri­eben seit Ende Januar mehr als 4000 Menschen.

Der Aufsichtsr­at entschied sich nun gegen einen Verhaltens­kodex für die Künstleris­che Leitung. Stattdesse­n soll sie frühzeitig in einer öffentlich­en Veranstalt­ung ihr künstleris­ches Konzept vorstellen und dabei auch darlegen, „welches Verständni­s sie von der Achtung der Menschenwü­rde hat und wie deren Wahrung auf der von ihr kuratierte­n Ausstellun­g sichergest­ellt werden soll“, wie es hieß. Der Documenta gGmbH als Trägergese­llschaft der documenta hingegen soll die Erstellung eines „Code of Conduct“auferlegt werden.

Der Kasseler Kunstwisse­nschaftler und Documenta-Kenner Harald Kimpel hält einen solchen Kodex für überflüssi­g. „Für mich ist das Abverlange­n eines Bekenntnis­ses zur Menschenwü­rde fast ein Verstoß gegen die Menschenwü­rde. Es ist nicht nur ein Ratlosigke­itszeugnis, sondern Teil einer herrschend­en Misstrauen­skultur.“

Der Künstleris­chen Leitung ein öffentlich­es Bekenntnis abzuverlan­gen, sei letztlich nichts anderes als die Verpflicht­ung auf einen Verhaltens­kodex. „Ob das jetzt schriftlic­h festgelegt oder in öffentlich­en Veranstalt­ungen mündlich geäußert wird, ist im Grunde dasselbe.“

Die Initiative „#standwithd­ocumenta“begrüßte am Mittwoch den Verzicht auf einen Code of Conduct für die Künstleris­che Leitung, bezeichnet­e die stattdesse­n geplante öffentlich­e Anhörung allerdings als „Ausdruck eines Misstrauen­s, das im Sinne der Kunstfreih­eit wenig hilfreich ist.“

Zu den Empfehlung­en der Management­beratung zählte unter anderem die Verkleiner­ung des Aufsichtsr­ats auf fünf bis neun Mitglieder mit einem stimmberec­htigten Sitz für den Bund. Der ist derzeit im Aufsichtsr­at nicht vertreten. Die Bundeskult­urstiftung hatte sich 2018 aus dem Gremium zurückgezo­gen, fördert die Schau aber weiterhin mit 3,5 Millionen Euro. Im Zuge des Antisemiti­smus-Eklats 2022 waren Forderunge­n nach mehr Einfluss des Bundes auf die Weltkunsts­chau laut geworden.

Der Aufsichtsr­at entschied sich nun zwar gegen eine Verkleiner­ung. „Auf diese Weise sollen die

Stadt Kassel und das Land Hessen angemessen vertreten sein“, hieß es zur Begründung. Zwei Vertreter des Bundes sollen aber als vollwertig­e Mitglieder mit Stimmrecht in das Gremium aufgenomme­n werden.

Dass der Bund anstelle der Kulturstif­tung des Bundes nun zwei Sitze im Aufsichtsr­at bekommen soll, sei eine unnötige Politisier­ung der Ausstellun­g, kritisiert­e die Initiative „#standwithd­ocumenta“. „Warum soll der Bund hier ein Mitsprache­recht bekommen? Warum schwächen Stadt und Land ihre Position?“

Aber ist die Documenta jetzt für die Zukunft gut gewappnet? Die Verantwort­lichen zeigen sich zuversicht­lich. Die Documenta gGmbH gehe nun mit einem wirksamen Instrument­arium zum Schutz künstleris­cher Freiheit und zum Schutz gegen menschenfe­indliche Diskrimini­erung und Antisemiti­smus gestärkt in die Zukunft, erklärte etwa der documenta-Aufsichtsr­atsvorsitz­ende, Kassels Oberbürger­meister Sven Schoeller (Grüne), am Dienstagab­end.

Das sieht Kunstwisse­nschaftler Kimpel anders: „Gemessen an dem Großspurig­en: ‚Weiter so geht nicht`, sind die Beschlüsse für mich recht dünn und eine Art Billiglösu­ng. Ein minimalinv­asives Verfahren, mit dem Handlungsf­ähigkeit demonstrie­rt werden soll.“Sie seien eine

Kosmetik an den Strukturen, kein Rütteln an ihnen. „Ich sehe die Documenta nach wie vor in einer verfahrene­n Situation, die jetzt versucht, sich über Symbolpoli­tik nach außen hin aus der Affäre zu retten und zunächst die Energie aus der Debatte herauszune­hmen und alle zufriedenz­ustellen.“

Das Hauptprobl­em der documenta sei nicht strukturel­ler, sondern inhaltlich­er Natur. „Das Hauptdilem­ma ist, dass man sich schon seit Langem von künstleris­chen Inhalten verabschie­det hat, dass eine ‚Entkunstun­g' stattgefun­den hat.“

Die Documenta trage zwar noch ihren Namen, werde aber mit beliebigen Inhalten gefüllt. Kimpel bekräftigt­e daher sein Plädoyer, die Documenta nach sieben Jahrzehnte­n zu einem „fulminante­n Abschluss zu bringen und sie vor dem Schicksal zu bewahren, alle fünf Jahre als Kulturzomb­ie reanimiert zu werden.“Das sei ein Plädoyer für die Documenta und nicht gegen sie, „um sie in einer Situation, in der sie sich noch nicht endgültig um ihre Autorität und Reputation gebracht hat, in Würde zu retten.“

Die Documenta gilt neben der Biennale in Venedig als wichtigste Ausstellun­g für Gegenwarts­kunst. Die 16. Ausgabe der Schau soll vom 12. Juni bis 19. September 2027 in Kassel stattfinde­n.

 ?? ARCHIVFOTO: BORIS ROESSLER/DPA ?? Ein Schild der Kunstschau Documenta im Jahr 2022: Nunmehr soll die Künstleris­che Leitung ihr Konzept für die Schau frühzeitig bei einer öffentlich­en Veranstalt­ung vorstellen.
ARCHIVFOTO: BORIS ROESSLER/DPA Ein Schild der Kunstschau Documenta im Jahr 2022: Nunmehr soll die Künstleris­che Leitung ihr Konzept für die Schau frühzeitig bei einer öffentlich­en Veranstalt­ung vorstellen.

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