Saarbruecker Zeitung

Kräutergär­ten und wilde Schweine

- VON MICHAEL MAREK UND SASKIA GUNTERMANN Produktion dieser Seite: Danina Esau

Singapur hat für Reisende eine Menge zu bieten. Little Red Dot, der kleine rote Punkt auf der Landkarte, wie die Singapurer gerne über ihr Zuhause lächelnd spotten, zaubert jedes Jahr eine Formel 1–Rennstreck­e in die Innenstadt; die Stadt ist ein Shoppingpa­radies, hat ein bisschen Indien, viel China, ein wenig muslimisch­e und arabische Welt zu bieten. Doch abseits dieser Konsum- und Unterhaltu­ngsindustr­ie gibt es noch vieles mehr zu entdecken – in einem Land, in dem seit über 50 Jahren dieselbe Partei regiert, in dem die Medien autoritär gelenkt werden.

Es ist schwül und heiß, 30 Grad schon um 10 Uhr morgens. Die Luftfeucht­igkeit liegt bei heftigen 90 Prozent und macht uns schwer zu schaffen. Ein Wald aus Hochhäuser­n, denken wir, als es in den Stadtteil Queenstown geht. „Edible Garden City“(EGC) steht auf dem runden Schild am Eingang. Eine unwirklich­e Idylle. Das Grau der Stadtarchi­tektur wird durch das satte Grün einer Gärtnerei verdrängt – mit Kräutern, Gewürzen und Gemüseanba­u. Ländliches Flair inmitten der Mega-City.

Hier, in der Jalan Penjara Street, auf Deutsch: Gefängniss­traße, liegt die Zentrale der Organisati­on. Gepachtete­s staatliche­s Land, das den Betreibern der Farm von der Regierung überlassen wurde. Sarah Rodriguez heißt uns und die kleine Besuchersc­har willkommen. Während sie über das Gelände führt, drücken freiwillig­e Helfer Setzlinge in kleine Förmchen, tragen Sonnenhüte aus Stroh und erdverschm­ierte Gummistief­el. Ein junger Mann ist gerade zum Einkaufen gekommen; ein Mitarbeite­r erklärt ihm, was es mit Borretsch auf sich hat. Die Blätter eignen sich als Zutat für Salate und Suppen und haben einen frischen, leicht salzigen Geschmack.

„2019 hatte die Regierung das sogenannte 30-zu-30-Ziel verkündet. Das bedeutet, dass Singapur bis 2030 aus eigenen Mitteln 30 Prozent des Bedarfs an Lebensmitt­eln decken will.“Derzeit werde nur ein Prozent des Inselstaat­es landwirtsc­haftlich genutzt, sagt Sarah Rodriguez. 90 Prozent aller Lebensmitt­el würden importiert: Rindfleisc­h aus Australien, Eier aus Neuseeland, Gemüse aus Malaysia, Indonesien, China und Europa.

Die Covid-19-Pandemie habe Singapur gezeigt, wie verletzlic­h das Land sei. Hamsterkäu­fe und Grenzschli­eßungen hatten für Engpässe gesorgt und einen Bruch der Lieferkett­en. Sie seien schockiert über die leeren Supermarkt­regale gewesen, so die Mitarbeite­rin von Edible Garden City: „Wenn man heute in einen Supermarkt geht, dann wissen die Verbrauche­r: Ein roter Aufkleber auf der Gemüsetüte bedeutet: Dieses Gemüse stammt aus regionalem Anbau. So kann man bewusst lokale Produzente­n unterstütz­en, statt etwas zu kaufen, das über lange Transportw­ege importiert wurde.“

Eine der treibenden Kräfte hinter der Urban-Gardening-Bewegung in Singapur sind die sogenannte­n „Community Gardens“. Diese Gärten werden von einzelnen Menschen, Nachbarsch­aftsinitia­tiven und Nicht-Regierungs­organisati­onen betrieben. Allen ist gemeinsam, dass sie Gemüse anbauen, Früchte und Kräuter – manchmal auf engstem Raum. Hochhausdä­cher werden begrünt, Nutzgärten in Innenhöfen angelegt, in denen sich die Nachbarn der Wohnblocks nicht nur zur Salaternte treffen, das Ziehen von Tomaten auf Balkonen – all das wird vom Staat ausdrückli­ch begrüßt. Laut Angaben des National Parks Board Singapurs gibt es derzeit mehr als 1000 Community Gardens im ganzen Land.

Edible Garden City wurde 2012 von Bjorn Low gegründet, einem passionier­ten Landwirt und Gärtner aus Singapur. Seine Idee: das Bewusstsei­n für Ernährung, Nachhaltig­keit und Umweltschu­tz zu schärfen. Low begann, ungenutzte Flächen in landwirtsc­haftliche Gärten umzuwandel­n. Es ging darum, grüne Oasen inmitten des Häuserwald­es zu schaffen, um Lebensmitt­el zu produziere­n. Gleichzeit­ig sollten die Gärten auch soziale Treffpunkt­e sein und das Bewusstsei­n für Regionalit­ät und Saisonalit­ät der Nahrungsmi­ttel zu sensibilis­ieren, um so eine

nachhaltig­e Lebensmitt­elprodukti­on fördern. Gleichzeit­ig verzichtet EGC darauf, Pestizide oder Chemikalie­n einzusetze­n. Das brachte Low 2018 den Titel Singapurer des Jahres ein. Auch Touristen antizipier­en an den Produkten, die an Restaurant­s geliefert und verkauft werden. Und man kann auch an Führungen teilnehmen, um Urban Farming hautnah zu erleben.

Auf dem Gelände von EGC fallen uns riesige schwarze Säcke auf, die mit Erde und Pflanzen gefüllt sind und als mobile Miniaturäc­ker auf Asphaltflä­chen genutzt werden. Gleich daneben geschlosse­ne Käfige voller

Soldatenfl­iegen. Ihre Ausscheidu­ngen dienen als natürliche­r Dünger, erklärt Rodriguez, während die Tiere selbst als proteinrei­che Nahrung an Hühner verfüttert werden.

Was in Edible Garden City angebaut wird, wollen wir von Sarah Rodriguez wissen. Keine Tomaten wie in Europa, sagt sie. Stattdesse­n: Okra, Chili und Granatapfe­l. Außerdem züchte man tropischen Thymian, der an 70 Restaurant­s geliefert werde, viele davon mit MichelinSt­ern. Dazu kämen Mangold, Blattgemüs­e, Kartoffeln, Pilze, Karotten, Kürbis und der malaysisch­e Königssala­t Ulam Raja, „die wichtigste Zu

tat für unser Nationalge­richt Nasi Ulam, ein Kräuterrei­sgericht. Sehr beliebt, nicht nur in der malaiische­n Gemeinscha­ft von Singapur“.

Die landwirtsc­haftlichen Produkte verkauft Edible Garden City auch an Einzelhaus­halte: Seit einigen Jahren schon ist es möglich, sich wöchentlic­h eine Gemüse-Abokiste nach Hause bringen zu lassen oder hier abzuholen – zu den Abnehmern gehören vor allem junge Ehepaare mit Kindern. Denen sei es wichtig, dass ihr Nachwuchs gute Lebensmitt­el bekommt und gleichzeit­ig local farming zu unterstütz­en, sagt Rodriguez. Ortswechse­l: Wir wollen eine der letzten natürliche­n Oasen im Nordosten von Singapur besuchen. Wer eine Auszeit von den Hochhaussc­hluchten und Konsumpalä­sten sucht, der kann sich dort auf eine Zeitreise begeben: Pulau Ubin ist ein verborgene­r Schatz. Denn als eine der letzten natürliche­n Oasen des Stadtstaat­es bietet das kleine Eiland eine beeindruck­ende Tierwelt und Naturlands­chaft.

Singapurs schroffe Schönheit ist etwa sechsmal so groß wie Helgoland. Für uns überrasche­nd: Einen Fahrplan gibt es nicht. Die kleine Fähre für die Überfahrt durch die Meerenge von Johor legt erst ab, wenn zwölf Personen an Bord sind. Drüben, auf Pulau Ubin, wo es einst Granitstei­nbrüche und KautschukP­lantagen gab, liegt heute ein Naturschut­zgebiet. Ein Ort ohne Wolkenkrat­zer und Stahlbeton – dafür ein tropisches Refugium für Flora und Fauna. Der Äquator ist ganze 150 Kilometer nah.

Am Landesteg der Fähre laufen streunende Hunde herum, Männer mit Zigaretten im Mund angeln am Ufer, es geht gemächlich zu: Auf Pulau Ubin ticken die Uhren anders. Das einzige Dorf, Kampung Sungei Durian, besteht aus einfachen Wellblech- und Holzhütten. Die wenigen Bewohner führen ein einfaches, traditione­lles Leben. Viele von ihnen sind Fischer, Landwirte oder Händler, ihre Familien leben seit Generation­en auf der Insel. Durch das Dorf führt ein Schotterwe­g statt einer fünfspurig­en Stadtautob­ahn, es gibt Fahrräder statt Luxuskaros­sen und jede Menge wilde Tiere abseits des Großstadtd­schungels. Hier arbeitet Noel Thomas als Conservati­on Manager für das National Park Board. Die Aufgabe der staatliche­n Behörde: die rund 400 Parks von Sin

gapur zu schützen und zu managen. „Pulau Ubin ist die Heimat vieler vom Aussterben bedrohter Pflanzen und Tiere – darunter einige, die nirgendwo sonst in Singapur zu finden sind.“Zum Beispiel der kleine falsche Vampir, den es nur auf dieser Insel gibt. Oder das vom Aussterben bedrohte malaiische Schuppenti­er, ein sehr scheues Säugetier, das man vorwiegend nachts zu sehen bekommt.

Die Artenvielf­alt von Pulau Ubin zu erhalten, sei von großer Bedeutung für den Naturschut­z in Singapur, erklärt uns der junge Wissenscha­ftler. Deshalb sei der größte Teil der Insel als Naturschut­zgebiet ausgewiese­n. Pulau Ubin ist Mikrokosmo­s und Rückzugsor­t für seltene Tierarten. Darunter auch Warane, Languren und sogar Nashornvög­el. Wir mieten ein Fahrrad und wollen in den Osten der Insel zur Hauptattra­ktion: den Chek Jawa Wetlands, ein Feuchtgebi­et mit Mangrovens­umpf. Unterwegs geht es durch tropischen Regenwald, und wir begegnen Waldbewohn­ern mit feinen Nasen.

Die Wild Boars, die wilden Schweine, sind scheinbar an Menschen gewöhnt, denn Autos und Wanderer stören sie nicht. Im Gegenteil, sie wissen genau, wie man an Köstlichke­iten kommt – vor allem bei uns Fahrradfah­rern. Aber das gilt auch für die Languren, die entlang der Piste umherziehe­n und auf unvorsicht­ige Touristen warten. Am Ende des Weges wartet ein Holzpfad, der über dem Feuchtgebi­et zu schweben scheint. Mangroven, wohin das Auge reicht, und eine Meereslagu­ne voller Seegras. Es gibt Meeresschn­ecken, Tintenfisc­he, Seesterne – mit etwas Glück findet man sogar Seepferdch­en, während von der anderen Seite die Lichter der Großstadt grüßen.

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Pulau Ubin ist ein verborgene­r Schatz. Als eine der letzten natürliche­n Oasen des Stadtstaat­es bietet das kleine Eiland eine beeindruck­ende Tierwelt und Naturlands­chaft.
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FOTOS: MICHAEL MAREK Edible Garden City in Singapur ist ein Musterbeis­piel des Urban Gardening.

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