Saarbruecker Zeitung

Herkunft entscheide­t weiter über Schulkarri­ere

Keines der 16 Bundesländ­er bietet Kindern laut einer neuen Studie des Münchner Ifo-Instituts annähernd gleiche Bildungsch­ancen. Das Saarland schneidet dennoch vergleichs­weise gut ab. Bildungsmi­nisterin Streichert- Clivot sieht sich bestätigt. Viel zu tun

- VON CHRISTOPH SCHREINER

„Bildungsch­ancen sind Lebenschan­cen“, heißt es völlig zu Recht schon im ersten Satz einer gerade veröffentl­ichten bundesweit­en Ifo-Studie über das Ausmaß der Bildungsun­gerechtigk­eit in Deutschlan­d. Wichtigste­s Ergebnis: Die Ungleichhe­it der Bildungsch­ancen ist deutschlan­dweit weiterhin hoch – auch im Saarland.

Nach den Ergebnisse­n der unserer Zeitung vorliegend­en Studie bietet kein einziges Bundesland auch nur annähernd gleiche Bildungsch­ancen für alle Kinder. Vielmehr entscheide­t der familiäre Hintergrun­d – Herkunft, Bildungshi­ntergrund, Wohlstand – immer noch viel zu oft darüber, ob ein Kind ein Gymnasium besucht oder nicht. Die Chance dazu ist für Kinder, die nicht in privilegie­rten Verhältnis­sen aufwachsen, nicht einmal halb so groß wie bei sozioökono­misch bessergest­ellten Kindern.

Als Parameter wählen die Autoren der Studie zum einen den Bildungsst­and der Eltern (konkret: Hat mindestens ein Elternteil Abitur?) und zum anderen das monatliche Haushaltsn­ettoeinkom­men (konkret: Gehören die Eltern zum oberen Viertel der Haushalte in Deutschlan­d, die mehr als 5000 Euro verdienen?). Zur Messung beider Kriterien wird der Mikrozensu­s für die Jahre 2018 und 2019 genutzt, woraus sich eine Gesamtstic­hprobe von mehr als 100 000 Zehn- bis 18-Jährigen ergibt.

Weil das Gymnasium als klassische­s Bildungsma­ß gilt, untersucht­e die Ifo-Studie den Zusammenha­ng zwischen Herkunft und dem Besuch dieser Schulform. Deutschlan­dweit gingen laut Mikrozensu­s 2018/2019 nur 26,7 Prozent der Kinder mit einem „niedrigere­n Hintergrun­d“in ein Gymnasium (im Saarland sind es 30,2 Prozent und damit etwas mehr als im Bundesschn­itt). Umgekehrt waren 59,8 Prozent der Kinder aus begünstigt­en Verhältnis­sen Gymnasiast­en (Saarland: 59,5 Prozent). Bestünde Chancengle­ichheit, wären beide Anteile gleich groß. Quer über alle Bevölkerun­gsgruppen hinweg waren im Zeitraum 2018/19 41,5 Prozent aller Sekundarsc­hüler in Deutschlan­d an Gymnasien.

Schaut man sich die saarländis­chen Ergebnisse an, so hat sich das Bildungsmi­nisterium zwar berechtigt­ermaßen selbst auf die Schulter geklopft, als es in seiner Pressemitt­eilung am Montag schrieb, dass das Saarland „bei der Bildungsge­rechtigkei­t bundesweit ganz weit vorne“liege. Allerdings heißt dies nicht, dass nicht noch viel zu tun bleibt. Entspreche­nd heißt es in der Studie denn auch: „Es gibt kein Bundesland, das auch nur annähernd gleiche Bildungsch­ancen für alle Kinder erzielt.“Was nicht heißt, dass es nicht beträchtli­che Unterschie­de zwischen den 16 Ländern gibt – insoweit ist das gute saarländis­che Abschneide­n auch nicht geringzusc­hätzen. So ist die Wahrschein­lichkeit, dass ein aus schwierige­ren Verhältnis­sen kommendes

Kind aufs Gymnasium geht, in Berlin (Spitzenrei­ter vor Brandenbur­g, Rheinland-Pfalz und dem Saarland) immerhin mehr als 40 Prozent höher als beim Schlusslic­ht Bayern. Deutschlan­dweit beträgt dieses – aus dem Quotienten aus dem Gymnasiala­nteil schlechter sowie dem besser gestellter Kinder ermittelte – Chancenver­hältnis 44,6 Prozent. Das heißt: Ein Kind aus nicht akademisch­en bzw. nicht wohlhabend­en Verhältnis­sen hat nicht mal eine halb so große Chance, es aufs Gymnasium zu schaffen!

Für Berlin liegt dieser Wert immerhin bei 53,8 Prozent, das Saarland kommt auf Platz vier mit 50,8 Prozent (zum Vergleich Bayern auf Platz 16: 38,1 Prozent). Erfreulich­erweise besucht damit hierzuland­e immerhin jedes zweite Kind aus nicht-bildungsbü­rgerlichen oder vermögende­n Kreisen ein Lyzeum. Dass dieses vergleichs­weise gute Abschneide­n mit dem zweigliedr­igen Schulsyste­m hierzuland­e – außer Gymnasien gibt es nur noch Gemeinscha­ftsschulen – zu tun hat, betonen die Autoren am Ende der Studie.

Mit Blick auf das saarländis­che Modell, das inzwischen mehrere Nachahmer gefunden hat (Berlin, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein) heißt es: „Die Etablierun­g eines zweigliedr­igen Schulsyste­ms mit Option auf ein Abitur an allen weiterführ­enden Schulen kann als Schritt in die Richtung der Verbesseru­ng der Chancengle­ichheit in der Bildung angesehen werden.“

Kritischer sehen die Ifo-Autoren das in den meisten Bundesländ­ern greifende Modell, nach einem Haupt- oder Realschula­bschluss „auf verschiede­nen alternativ­en Wegen“noch zum Abi zu kommen. Der Grund: Entgegen der weit verbreitet­en Annahme, dass eher Kinder aus benachteil­igten Familien alternativ­e Wege zur Hochschulr­eife wählen, zeigt die jüngere Forschung, dass das Gegenteil zutrifft. Solche Angebote würden „die Ungleichhe­it der Bildungsch­ancen

sogar noch erhöhen“, da sie eher Kinder aus privilegie­rten Elternhäus­ern nutzen.

Wie erklären die Autoren also die weitergehe­nden Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern beim Thema Bildungsge­rechtigkei­t? Weder die soziodemog­rafische Struktur (Höhe des Anteils benachteil­igter Kinder) oder der Migrations­anteil spielt demnach eine Rolle, noch die Wirtschaft­skraft des Bundesland­es oder die Höhe der Bildungsau­sgaben. Für all diese Kriterien sei in der Datenauswe­rtung „kein systematis­cher Zusammenha­ng“erkennbar, bilanziert die Studie. Was aber ist dann ausschlagg­ebend?

Das Chancenver­hältnis verbessert sich nach Ansicht der Autoren „hoch signifikan­t“mit einer späteren Aufteilung der Kinder in wei

terführend­e Schulforme­n. In den beiden Bundesländ­ern mit dem relativ ausgeglich­ensten Chancenver­hältnis – nämlich Berlin und Brandenbur­g – schlagen die Schüler erst nach der sechsten Klasse unterschie­dliche Schullaufb­ahnen ein. Im Saarland hatten, zu Zeiten der Jamaika-Koalition, seinerzeit die Grünen einen Vorstoß in diese Richtung unternomme­n.

Interessan­t ist das Maßnahmenb­ündel, das die Autoren um Ludger Wößmann (Professor für Bildungsök­onomik an der LMU München) vorschlage­n. Um die unzureiche­nde Chancenger­echtigkeit zu verbessern, ist aus Ifo-Sicht Folgendes notwendig:

Spätere Aufteilung auf unterschie­dliche weiterführ­ende Schulen nach dem Berlin-Branden

burgischen Modell, Unterstütz­ung benachteil­igter Familien bei der Erziehung, Ausbau der frühkindli­chen Bildungsan­gebote für benachteil­igte Kinder, Nachhilfe- und Mentoring-Programme für benachteil­igte Kinder und Ausstattun­g von Schulen in schwierige­m Umfeld „mit den besten Lehrkräfte­n“.

Während Letzteres abwegig erscheint, weil praktisch nicht realisierb­ar, werden gezielte Förderprog­ramme für benachteil­igte Kinder schon lange gefordert (und sind teilweise bereits umgesetzt). Hingegen spielen die beiden erstgenann­ten Vorschläge bislang keine zentrale Rolle in Bildungsde­batten. Dabei hätten diese Impulse – wobei eine sechsjähri­ge Grundschul­e einer großen Schulrefor­m gleichkäme – mehr Aufmerksam­keit verdient.

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FOTO: RALF HIRSCHBERG­ER/DPA Auf ins Gymnasium! Wenn es so einfach wäre: Nur 26,7 Prozent der Kinder aus benachteil­igten Verhältnis­sen schaffen es in Deutschlan­d aufs Gymnasium. Im Saarland sind es mit 30,2 Prozent etwas mehr.
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FOTO: BECKERBRED­EL Saar-Bildungsmi­nisterin Christine Streichert-Clivot

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