Herkunft entscheidet weiter über Schulkarriere
Keines der 16 Bundesländer bietet Kindern laut einer neuen Studie des Münchner Ifo-Instituts annähernd gleiche Bildungschancen. Das Saarland schneidet dennoch vergleichsweise gut ab. Bildungsministerin Streichert- Clivot sieht sich bestätigt. Viel zu tun
„Bildungschancen sind Lebenschancen“, heißt es völlig zu Recht schon im ersten Satz einer gerade veröffentlichten bundesweiten Ifo-Studie über das Ausmaß der Bildungsungerechtigkeit in Deutschland. Wichtigstes Ergebnis: Die Ungleichheit der Bildungschancen ist deutschlandweit weiterhin hoch – auch im Saarland.
Nach den Ergebnissen der unserer Zeitung vorliegenden Studie bietet kein einziges Bundesland auch nur annähernd gleiche Bildungschancen für alle Kinder. Vielmehr entscheidet der familiäre Hintergrund – Herkunft, Bildungshintergrund, Wohlstand – immer noch viel zu oft darüber, ob ein Kind ein Gymnasium besucht oder nicht. Die Chance dazu ist für Kinder, die nicht in privilegierten Verhältnissen aufwachsen, nicht einmal halb so groß wie bei sozioökonomisch bessergestellten Kindern.
Als Parameter wählen die Autoren der Studie zum einen den Bildungsstand der Eltern (konkret: Hat mindestens ein Elternteil Abitur?) und zum anderen das monatliche Haushaltsnettoeinkommen (konkret: Gehören die Eltern zum oberen Viertel der Haushalte in Deutschland, die mehr als 5000 Euro verdienen?). Zur Messung beider Kriterien wird der Mikrozensus für die Jahre 2018 und 2019 genutzt, woraus sich eine Gesamtstichprobe von mehr als 100 000 Zehn- bis 18-Jährigen ergibt.
Weil das Gymnasium als klassisches Bildungsmaß gilt, untersuchte die Ifo-Studie den Zusammenhang zwischen Herkunft und dem Besuch dieser Schulform. Deutschlandweit gingen laut Mikrozensus 2018/2019 nur 26,7 Prozent der Kinder mit einem „niedrigeren Hintergrund“in ein Gymnasium (im Saarland sind es 30,2 Prozent und damit etwas mehr als im Bundesschnitt). Umgekehrt waren 59,8 Prozent der Kinder aus begünstigten Verhältnissen Gymnasiasten (Saarland: 59,5 Prozent). Bestünde Chancengleichheit, wären beide Anteile gleich groß. Quer über alle Bevölkerungsgruppen hinweg waren im Zeitraum 2018/19 41,5 Prozent aller Sekundarschüler in Deutschland an Gymnasien.
Schaut man sich die saarländischen Ergebnisse an, so hat sich das Bildungsministerium zwar berechtigtermaßen selbst auf die Schulter geklopft, als es in seiner Pressemitteilung am Montag schrieb, dass das Saarland „bei der Bildungsgerechtigkeit bundesweit ganz weit vorne“liege. Allerdings heißt dies nicht, dass nicht noch viel zu tun bleibt. Entsprechend heißt es in der Studie denn auch: „Es gibt kein Bundesland, das auch nur annähernd gleiche Bildungschancen für alle Kinder erzielt.“Was nicht heißt, dass es nicht beträchtliche Unterschiede zwischen den 16 Ländern gibt – insoweit ist das gute saarländische Abschneiden auch nicht geringzuschätzen. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein aus schwierigeren Verhältnissen kommendes
Kind aufs Gymnasium geht, in Berlin (Spitzenreiter vor Brandenburg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland) immerhin mehr als 40 Prozent höher als beim Schlusslicht Bayern. Deutschlandweit beträgt dieses – aus dem Quotienten aus dem Gymnasialanteil schlechter sowie dem besser gestellter Kinder ermittelte – Chancenverhältnis 44,6 Prozent. Das heißt: Ein Kind aus nicht akademischen bzw. nicht wohlhabenden Verhältnissen hat nicht mal eine halb so große Chance, es aufs Gymnasium zu schaffen!
Für Berlin liegt dieser Wert immerhin bei 53,8 Prozent, das Saarland kommt auf Platz vier mit 50,8 Prozent (zum Vergleich Bayern auf Platz 16: 38,1 Prozent). Erfreulicherweise besucht damit hierzulande immerhin jedes zweite Kind aus nicht-bildungsbürgerlichen oder vermögenden Kreisen ein Lyzeum. Dass dieses vergleichsweise gute Abschneiden mit dem zweigliedrigen Schulsystem hierzulande – außer Gymnasien gibt es nur noch Gemeinschaftsschulen – zu tun hat, betonen die Autoren am Ende der Studie.
Mit Blick auf das saarländische Modell, das inzwischen mehrere Nachahmer gefunden hat (Berlin, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein) heißt es: „Die Etablierung eines zweigliedrigen Schulsystems mit Option auf ein Abitur an allen weiterführenden Schulen kann als Schritt in die Richtung der Verbesserung der Chancengleichheit in der Bildung angesehen werden.“
Kritischer sehen die Ifo-Autoren das in den meisten Bundesländern greifende Modell, nach einem Haupt- oder Realschulabschluss „auf verschiedenen alternativen Wegen“noch zum Abi zu kommen. Der Grund: Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass eher Kinder aus benachteiligten Familien alternative Wege zur Hochschulreife wählen, zeigt die jüngere Forschung, dass das Gegenteil zutrifft. Solche Angebote würden „die Ungleichheit der Bildungschancen
sogar noch erhöhen“, da sie eher Kinder aus privilegierten Elternhäusern nutzen.
Wie erklären die Autoren also die weitergehenden Unterschiede zwischen den Bundesländern beim Thema Bildungsgerechtigkeit? Weder die soziodemografische Struktur (Höhe des Anteils benachteiligter Kinder) oder der Migrationsanteil spielt demnach eine Rolle, noch die Wirtschaftskraft des Bundeslandes oder die Höhe der Bildungsausgaben. Für all diese Kriterien sei in der Datenauswertung „kein systematischer Zusammenhang“erkennbar, bilanziert die Studie. Was aber ist dann ausschlaggebend?
Das Chancenverhältnis verbessert sich nach Ansicht der Autoren „hoch signifikant“mit einer späteren Aufteilung der Kinder in wei
terführende Schulformen. In den beiden Bundesländern mit dem relativ ausgeglichensten Chancenverhältnis – nämlich Berlin und Brandenburg – schlagen die Schüler erst nach der sechsten Klasse unterschiedliche Schullaufbahnen ein. Im Saarland hatten, zu Zeiten der Jamaika-Koalition, seinerzeit die Grünen einen Vorstoß in diese Richtung unternommen.
Interessant ist das Maßnahmenbündel, das die Autoren um Ludger Wößmann (Professor für Bildungsökonomik an der LMU München) vorschlagen. Um die unzureichende Chancengerechtigkeit zu verbessern, ist aus Ifo-Sicht Folgendes notwendig:
Spätere Aufteilung auf unterschiedliche weiterführende Schulen nach dem Berlin-Branden
burgischen Modell, Unterstützung benachteiligter Familien bei der Erziehung, Ausbau der frühkindlichen Bildungsangebote für benachteiligte Kinder, Nachhilfe- und Mentoring-Programme für benachteiligte Kinder und Ausstattung von Schulen in schwierigem Umfeld „mit den besten Lehrkräften“.
Während Letzteres abwegig erscheint, weil praktisch nicht realisierbar, werden gezielte Förderprogramme für benachteiligte Kinder schon lange gefordert (und sind teilweise bereits umgesetzt). Hingegen spielen die beiden erstgenannten Vorschläge bislang keine zentrale Rolle in Bildungsdebatten. Dabei hätten diese Impulse – wobei eine sechsjährige Grundschule einer großen Schulreform gleichkäme – mehr Aufmerksamkeit verdient.