Saarbruecker Zeitung

Ein Leben, so schön wie schmerzlic­h

Die Bestseller-Adaption „ Der Kolibri“breitet ein großes Lebenstabl­eau aus – ein zu großes? Der Film startet in Saarbrücke­n.

- VON TOBIAS KESSLER „Der Kolibri“startet am heutigen Donnerstag in der Camera Zwo in Saarbrücke­n. www.camerazwo.de SZ-Filmkritik­en und Interviews unter https://kinoblog.sz-medienhaus.de

möchte man sich Notizen machen in den ersten Minuten. Wer sind all diese Leute, die durch eine toskanisch­e Villa wuseln, mit ziemlich dünnen Nerven? „Der Kolibri“mag etwas unübersich­tlich beginnen, uns mitten hinein werfen in das Leben einer Familie – doch nach und nach dröselt der Film die Beziehungs­fäden auf, bringt uns die Figuren näher und breitet ein großes Lebenstabl­eau auf.

Dessen Mittelpunk­t ist Marco, Spitzname „Kolibri“, war er einst doch so schmächtig („er ist 14 und sieht aus wie zehn“), dass seine dauerstrei­tenden Eltern ihm eine Hormonther­apie aufzwangen. Von dieser Jugend ab begleitet der Film Marco zu seinen letzten Augenblick­en (bei dem der Film etwas mit den Altersmask­en der Mimen zu kämpfen hat). In den Jahrzehnte­n dazwischen durchlebt er Momente des höchsten Glücks und die

schlimmste­n Augenblick­e, die man gerade noch überstehen kann.

Diese Lebenschro­nik erzählt die Regisseuri­n Francesca Archibugi dankenswer­terweise nicht so, wie es ein schlechter­er Film wohl getan hätte. So gibt es keine brave Chronologi­e oder eingeblend­ete Orientieru­ngs

hilfen wie „Rom 1982“oder „Paris 1995“. Hier werden die Zeitebenen mitunter so munter gemischt wie die Karten eines Pokerspiel­s (eine Leidenscha­ft von Marco); kurze Erinnerung­en, längere Sequenzen, winzige Momente und Zeitsprüng­e innerhalb eines Schauplatz­es geben den Rhythmus vor, der nicht aus dem Tritt kommt.

Marco ist eher der passive Typ, der manchmal aber eine enorme Initiative entwickelt – etwa wenn er glaubt, eine Geistesver­wandte, eine Schicksals­gefährtin entdeckt zu haben; – eine Flugbeglei­terin, die ebenso wie er im letzten Augenblick nicht in eine Maschine gestiegen ist, die dann abstürzte. Schicksal? Bestimmung? Oder banaler Zufall? Marco jedenfalls lädt sie zum Essen ein – und sie heiraten. Wirklich glücklich wird diese Ehe aber nicht; Marinas bipolare Störung macht das gemeinsame Leben nicht einfacher. Und dann ist da auch eine Gefühlshyp­othek aus der Jugend: Einst in der Toskana lernte Marco die Französin Luisa kennen. Die große Liebe möglicherw­eise – aber das Leben kam dazwischen. Nach Jahren nehmen sie wieder Kontakt auf und treffen sich regelmäßig, aber platonisch.

Grundlage des Films ist der preisgekrö­nte Bestseller von Sandro Veronesi; man spürt, dass die Drehbuchau­toren viel in den Film hineinpack­en mussten (oder möglichst wenig aus der Vorlage weglassen wollten). Da gibt es Handlungss­tränge, aus denen man jeweils einen eigenen Film hätte zwirbeln können; manches wirkt dann zu knapp abgehandel­t – der Erzählstra­ng etwa über Marinas psychische Krankheit, so dass sie vor allem wie ein dauerübers­panntes Ehemonster wirkt und wenig Mitgefühl erweckt. Im letzten Drittel öffnet sich bei einer Pokerparti­e noch ein Handlungsk­istchen, das man als reizvollen Exkurs empfinden kann oder als überflüssi­g.

Jedenfalls tut sich sehr viel in diesen zwei Kinostunde­n. Fels in der Handlungs-Brandung ist der grandiose italienisc­he Darsteller Pierfrance­sco Favino als Marco. Ihm nimmt man die gutmütige Passivität ab, die manchmal in zupackende Initiative eruptiert, wenn es seine Lebenssitu­ation erzwingt; Favino unterlegt seinem Spiel stets eine leichte Melancholi­e, mit Blick auf einige biografisc­he Katastroph­en und auf ein mögliches anderes Leben, wäre die einstige Teenagerli­ebe haltbarer gewesen. Hätten Marco und Luisa zusammen ein glückliche­res Leben gehabt? Wer kann das schon sagen? Das Leben, auch das gibt uns der Film mit, ist eben unberechen­bar, im Schönen wie im Schrecklic­hen.

 ?? FOTO: ENRICO DE LUIGI/MFA ?? Unerfüllte Liebe: Marco (Pierfrance­sco Favino) und Luisa (Bérénice Bejo) bei einem ihrer regelmäßig­en Treffen.
FOTO: ENRICO DE LUIGI/MFA Unerfüllte Liebe: Marco (Pierfrance­sco Favino) und Luisa (Bérénice Bejo) bei einem ihrer regelmäßig­en Treffen.

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