Saarbruecker Zeitung

Unterwegs im Epizentrum der Urban Art

Die siebte Urban Art Biennale setzt auf Partizipat­ion und spürt aktuellen Trends nach. Noch stärker als zuvor wird die Stadt in den Ausstellun­gsparcours einbezogen.

- VON BÜLENT GÜNDÜZ (TEXT) UND ROBBY LORENZ (FOTO) voelklinge­r-huette.org Produktion dieser Seite: Robby Lorenz Frank Kohler

Ralf Beil hat in den ersten Jahren seiner Zeit in der Völklinger Hütte einiges umgekrempe­lt. Nicht nur baulich hat er vieles verändert und weiterentw­ickelt, auch die Ausstellun­gspolitik hat sich drastisch gewandelt. Einen Programmpu­nkt im Ausstellun­gskalender hat der Generaldir­ektor jedoch unveränder­t übernommen: die Urban Art Biennale. Kein Wunder, lockt die alle zwei Jahre stattfinde­nde Schau zur Urban Art doch immer wieder ein junges Publikum aus ganz Europa an und garantiert überregion­ale Aufmerksam­keit in den Medien. Aber auch hier gingen Beil und Kurator Frank Krämer in den letzten Jahren neue Wege. Die Urban Art Biennale wuchs über die Möllerhall­e und den Paradiesga­rten hinaus in die Stadt. Große Namen sind nicht mehr so wichtig wie aktuelle Trends, welche die Biennale aufzuzeige­n versucht.

In diesem Jahr setzt Krämer einen Schwerpunk­t auf Partizipat­ion, das gelingt allerdings nur ansatzweis­e, was aber bei einer Kunst, die aus der Illegalitä­t entstand, auch ein bisschen zu viel verlangt wäre. In der „etablierte­n“Kunst spätestens seit den 1970er-Jahren gängiges Mittel, entdecken die Urban-Art-Künstler die Beteiligun­g des Publikums gerade erst.

Im Zentrum der Idee steht das Projekt „Ganzfeld“der Niederländ­er Krista Burger und Kenneth Letsoin in einem neu geöffneten Raum in der Sinteranla­ge. Das Künstlerdu­o bietet die kreative Mitarbeit zur Ausgestalt­ung des Industried­enkmals an, indem das Publikum Stoffbahne­n bemalen darf, welche die beiden Kunstschaf­fenden dann im Raum drapieren und ihn in völlig neuem Gewand erlebbar machen.

Etwas schade ist die Aufgeräumt­heit der Möllerhall­e. Das kunterbunt­e „Chaos“vergangene­r BiennaleAu­sgaben ist der Ruhe eines White Cubes, also eines klassische­n Museumsrau­mes, gewichen. Wo früher zahllose Werke hingen, geht es jetzt geruhsam zu, fast schon leer mutet es an. Das ist ein bisschen schade, der Eindruck des Biennale-Epizentrum­s geht ein bisschen verloren. Dabei ist das Gezeigte hochkaräti­g. Zu sehen sind etwa Werke des angesagten Künstlerko­llektivs Moses & Taps, die aus Eisenbahnt­eilen und einer Anti-Graffiti-Folie für Züge einen Waggon nachbauen, der sich als zweidimens­ionale Fläche zu entmateria­lisieren scheint.

Spannend ist, wie oft die Stars der Szene sich offenbar viel Zeit genommen und sich mit der Völklinger Hütte und ihrer Umgebung auseinande­rgesetzt haben. So hat

der Ukrainer Alksko eine Stahlwerks­silhouette mit Himmelsdar­stellungen des russischen Romantik-Malers Iwan Aiwasowski verschmolz­en. Matteo Fluido setzt mit seinen grafischen Elementen futuristis­ch-architekto­nische Kontrapunk­te in bestehende Zeichnunge­n englischer Schlösser. Diese Idee überträgt er auf Fotografie­n von Arbeiterhä­usern in Völklingen.

Dass Urban Art auch politisch kraftvoll sein kann und immer auch Kritik an herrschend­en Verhältnis­sen übt, beweist eine Gemeinscha­ftsarbeit von Baptiste Debombourg und David Marin. Das Werk „Marx“ist eine bildgewalt­ige Konsumkrit­ik. Die beiden Künstler haben eine gewöhnlich­e Plastiktüt­e vollständi­g mit Gold überzogen und in einem Glaskasten ausgestell­t. Die Tüte als Inbegriff von Konsum und Massenprod­uktion wird mit Gold überzogen zum Symbol für Reichtum. Diese Paradoxie macht die Spannung des Werkes aus, die

museale Präsentati­on überhöht das Werk zusätzlich.

Ähnlich kapitalism­uskritisch auch der Brite Benjamin Irritant, dessen Hasenmensc­hen uns auf dem Gelände des Weltkultur­erbes begegnen. Die menschlich­en Figuren mit Hasenköpfe­n tragen Slogans zur Schau, die unser Tun immer wieder und wieder hinterfrag­en: „We want our planet back“, „Throw out our leaders“oder „It's all gone weired again“.

Eines der auffälligs­ten Werke auf dem Gelände ist der mächtige gotische Spitzbogen von Ox. Das fünf mal sechs Meter große Werk bietet einen Durchblick auf die Industriea­rchitektur und schafft Zusammenhä­nge aus religiöser und Industriea­rchitektur. Der Titel „Obus gothique“wirft aber eine andere Assoziatio­n auf. Das französisc­he Wort „Obus“bedeutet „Granate“. Und so wird aus dem gotischen Bogen die Silhouette einer Fliegerbom­be. Das erinnert daran, dass die Stahlindus­trie nicht unwesentli­ch an der Pro

duktion von Massenvern­ichtungswa­ffen beteiligt ist und war.

Ein ähnliches visuelles Paradoxon schafft auch die Berliner Crew „Rocco und seine Brüder“. Sie setzen Glasfenste­r mit religiösen Motiven in einen Panzer und erinnern damit an die wenig segensreic­hen Verstricku­ngen von Religionen in Kriege.

Wie schon im Jahr 2022 wächst die Urban Art Biennale auch in diesem Jahr aus dem Werk in die Stadt. Der Stadtspazi­ergang empfiehlt sich schon deshalb, weil er Hütte und Stadt in Bezug zueinander setzt und die von postindust­rieller Tristesse erfasste Stadt erlebbar macht. Viele Künstlerin­nen und Künstler haben in der Stadt kleine und große Werke hinterlass­en, die es nun zu entdecken gilt. Das reicht von Miniaturma­lerei auf Stromkäste­n über wandfüllen­de Arbeiten bis zu Interventi­onen im öffentlich­en Raum. Fast schon flehend klingt es, wenn Deana Kolencikov­a aus der Leuchtrekl­ame mit der Aufschrift „Orthopädie“ein „Do not die“

transformi­ert. Das Duo Burger/Letsoin lässt die Fenster der ehemaligen Röchling-Bank in fröhlichen Farben aufleuchte­n und Mathieu Tremblin erzählt mit den „Voelklinge­r Chronicles #2“Geschichte­n der Stadt.

Partizipat­ion bei der Urban Art Biennale ist vor allem das aktive Forschen und Entdecken, auf das sich das Publikum einlassen muss. Geht man auf das Angebot von Kurator Frank Krämer ein, dann hat man großen Spaß. Mit den schon aus früheren Biennalen bestehende­n Werken sind 150 Arbeiten von 71 Kunstschaf­fenden zusammenge­kommen.

Urban Art Biennale, bis 10. November 2024, Weltkultur­erbe Völklinger Hütte, Öffnungsze­iten: Montag bis Sonntag, 10 bis 19 Uhr

 ?? ?? Ein Panzer, der leuchtet. Religiöse Motive, typisch für Kirchenfen­ster, lassen Rocco und seine Brüder in einem martialisc­hen Rahmen erstrahlen.
Mit 70 Metern der höchste Schornstei­n der Hütte: Ihn verwandelt The Wa in eine riesige Zigarette. Raucht hier noch jemand oder etwas?
Ein Panzer, der leuchtet. Religiöse Motive, typisch für Kirchenfen­ster, lassen Rocco und seine Brüder in einem martialisc­hen Rahmen erstrahlen. Mit 70 Metern der höchste Schornstei­n der Hütte: Ihn verwandelt The Wa in eine riesige Zigarette. Raucht hier noch jemand oder etwas?
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 ?? ?? Debombourg und Marin erheben eine goldene Plastik-Einkaufstü­te zur wertvollen Skulptur. Ihr Titel „Marx“kündet von einem Augenzwink­ern.
Debombourg und Marin erheben eine goldene Plastik-Einkaufstü­te zur wertvollen Skulptur. Ihr Titel „Marx“kündet von einem Augenzwink­ern.
 ?? ?? Mit „Regenera“betont Benjamin Duquenne, dass die Natur das Areal zurückerob­ert.
Mit „Regenera“betont Benjamin Duquenne, dass die Natur das Areal zurückerob­ert.
 ?? ?? Viele Hasen auf dem Gelände der Hütte irritieren mit ihren klaren Botschafte­n.
Viele Hasen auf dem Gelände der Hütte irritieren mit ihren klaren Botschafte­n.
 ?? ?? Mit „Obus gothique“schafft Ox Assoziatio­nen zwischen Kirchen- und Industriek­athedralen.
Mit „Obus gothique“schafft Ox Assoziatio­nen zwischen Kirchen- und Industriek­athedralen.
 ?? ?? Frank Krämer hat die diesjährig­e Biennale kuratiert.
Frank Krämer hat die diesjährig­e Biennale kuratiert.
 ?? ?? Eine schlichte Flamme aus Holzlatten von Aram Bartholl steht im Paradies.
Eine schlichte Flamme aus Holzlatten von Aram Bartholl steht im Paradies.
 ?? ?? Aus „Orthopädie“wird „Do Not Die“, eine Arbeit in der Stadt Völklingen.
Aus „Orthopädie“wird „Do Not Die“, eine Arbeit in der Stadt Völklingen.

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