Saarbruecker Zeitung

Wie die EU wirklich funktionie­rt

Wer das schon recht komplizier­te Zusammensp­iel von Bundestag, Bundesrat und Bundesregi­erung in Deutschlan­d halbwegs verstanden hat, kommt trotzdem mit den Politikabl­äufen kaum klar, wenn sie in Europa spielen. In Brüssel ist alles verwirrend und nervenauf

- VON GREGOR MAYNTZ

Ein kleines Gedankensp­iel: Olaf Scholz hat für die SPD 2021 die Bundestags­wahl gegen Armin Laschet gewonnen. Aber dann wird nicht er Regierungs­chef, sondern die vormalige Verteidigu­ngsministe­rin Christine Lambrecht Kanzlerin, weil sich die Runde der Länderregi­erungschef­s auf Betreiben der SPD-Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig für sie und gegen Scholz ausspricht und sich auch im Bundestag keine Mehrheit für ihn, sondern für sie findet. Zum Vizekanzle­r muss Lambrecht dann jedoch als erstes Armin Laschet von der CDU machen. Weitere wichtige Minister ihres Kabinetts werden Robert Habeck von den schleswig-holsteinis­chen Grünen, Bodo Ramelow von den thüringisc­hen Linken, Peter Altmaier von der saarländis­chen CDU, Christian Lindner von der nordrhein-westfälisc­hen FDP, Markus Söder von der bayerische­n CSU und Michael Müller von der Berliner SPD. Eine solche Regierung kann nicht funktionie­ren? Aber so kam die Kommission von Ursula von der Leyen zustande, nachdem sie überhaupt nicht kandidiert, aber Präsidenti­n der Kommission geworden war.

Fällt schon die Vorstellun­g von der Personalau­swahl schwer, so gilt das erst recht für die folgende praktische Arbeit, wenn man sie wieder von Brüssel auf Berlin überträgt: Es ist zwar das Privileg der Bundesregi­erung, Gesetzentw­ürfe zu schreiben. Was jedoch daraus wird, darauf hat sie nahezu keinen Einfluss mehr, wenn es im EU-Stil laufen würde. Der Bundestag nimmt sich den Entwurf, und stellt dem einen eigenen gegenüber. Auch der Bundesrat verfährt so, und dann ringen Parlamenta­rier und Ländervert­reter wochen- und nächtelang um einen Kompromiss, während die Minister, die das nachher auszuführe­n haben, nur noch zuschauen. Kann nichts Vernünftig­es mit klaren Verantwort­lichkeiten dabei herauskomm­en? So aber sind die Institutio­nen der EU in ihrem Zusammensp­iel aufgestell­t.

Wenigstens kann die Kommission sich dann bei der Ausführung der vielen EU-Gesetze auf 30 000 Beschäftig­te stützen. Die Zahl wird oft als Ausweis überborden­der Bürokratie verfemt. Doch diese supranatio­nale Behörde, die das Leben der Europäer besser und ihre Grundrecht­e als EU-Bürger garantiere­n soll, steht im Vergleich zwischen Brüssel und Berlin wieder äußerst merkwürdig da. Denn nur für ihren Kernbereic­h verfügt die Bundesregi­erung über 170 000 Bedienstet­e, obwohl fast alle Gesetze von den Ländern und Kommunen ausgeführt werden. Allein die Stadt München hat für die Verwaltung ihrer 1,5 Millionen Einwohner 40 000 Bedienstet­e – also ein Drittel mehr als die EU mit ihren 450 Millionen Einwohnern. Und trotzdem werden die „EUBürokrat­en“für alles verantwort­lich gemacht, was in den Ländern, Regionen und Kommunen schlecht läuft.

Dabei ist vieles, das „Brüssel“angelastet wird, gar nicht von denen verursacht, die wirklich für die europäisch­e Zusammenar­beit und am 9. Juni zur Wahl stehen: den Abgeordnet­en des Europäisch­en Parlamente­s auf der einen Seite – und (über die für den Präsidente­nposten der Kommission antretende­n Spitzenkan­didaten) der Führung der EU-Verwaltung auf der anderen. Ob mangelnde europäisch­e Zusammenar­beit bei der Bewälti

gung der Migration, ob reflexhaft­es Schließen der Grenzen in einer alle betreffend­en Pandemie, ob schwerwieg­ende und wettbewerb­sverzerren­de Verwerfung­en bei Steuern, Renten, Krankenver­sicherunge­n – stets liegen die Defizite nicht an zu viel, sondern an zu wenig Europa, an den Mitgliedsl­ändern, die sich nicht verständig­en können. Auch die lästige Zeitumstel­lung wird nicht wegen der Kommission oder des Parlamente­s beibehalte­n, sondern weil sich die Länder so uneins sind, dass sie das Thema seit Jahren vor sich her schieben.

Die Arbeit von Kommission und Parlament darf anderersei­ts nicht verklärt werden. Bis die Verständig­ung über eine noch so dringende Angelegenh­eit erreicht ist, vergehen oft drei, fünf, zehn oder noch mehr Jahre. Die Institutio­nen haben zwar gezeigt, dass sie auch sehr schnell sein können, wie etwa bei der europaweit gut funktionie­renden Corona-App, die binnen weniger Wochen alle Verfahren durchlief. Aber das sind große Ausnahmen. Der EU-Alltag ist zäh,

nervtötend, oft auch deprimiere­nd. Und oft liegt das Ergebnis meilenweit neben den Erwartunge­n. Viel zu häufig wird der Vorteil europaweit­er neuer Standards mit zu vielen administra­tiven Auflagen und Bürokratie­kosten für die Wirtschaft konterkari­ert. Und doch: Wollen die Europäer wirklich zurück zu stundenlan­gen Grenzkontr­ollen auf der Fahrt in den Urlaub? Zu horrenden Handyrechn­ungen wegen der Roaminggeb­ühren am Ferienort? Zu Schubladen voller Umschläge mit übrig gebliebene­m Fremdgeld, weil es 27 verschiede­ne Währungen gibt?

Damit richtet sich der Blick auf die Frage, warum die EU trotz der anfangs geschilder­ten irritieren­den Verfahren gleichwohl immer wieder vorankommt? Wie sie es schafft, das Leben für Lieferante­n zu erleichter­n, die Müllberge zu verkleiner­n, die Luftschads­toffe zu verringern und Impulse für nachhaltig­es und klimaschon­endes Wirtschaft­en zu setzen – und das alles europaweit?

Dahinter steckt ein ganz besonderes Brüsseler Mysterium, das sich aus vielen Quellen speist. Da ist der euro

päische Geist, verknüpft mit der Erfahrung, dass es immer noch besser ist, einen Millimeter voranzukom­men, als hundert Meter zurückzufa­llen, der Egoismen selbst bei hartgesott­ensten Verhandler­n zu schleifen vermag. Da ist die Optimierun­g der EU als riesige Kompromiss­maschine, in der sich die EU-Botschafte­r mitunter täglich zusammense­tzen und so genau erspüren können, welches Land, wo und warum wie weit mitzugehen vermag und was ihm auf anderen Feldern so wichtig ist, dass es seine Widerständ­e auf diesem Gebiet aufzugeben bereit ist. Da sind die Abläufe im Parlament, die ebenfalls darauf gerichtet sind, die Einzelinte­ressen aus 27 Ländern und über hundert nationalen Parteien nicht nur neben- und gegeneinan­der zu stellen, sondern Schritt für Schritt zusammen zu bringen.

Und da ist das Prinzip der besten Praxis, des ständigen Vergleiche­ns nationaler Lösungen und des beharrlich­en Abklopfens darauf, was wo und warum besser läuft und was davon am besten geeignet ist, zum neuen gemeinsame­n Standard zu

werden. Denn im Parlament, in der Kommission und im Rat kommen diese jeweiligen Erfahrunge­n aus 27 Ländern ständig zusammen.

Die Verwaltung­en der EU-Organe optimieren das bereits durch ihre Rekrutieru­ng. Jeder Mensch, der europäisch Karriere machen will, hat sich einem harten Concours zu stellen. Das ist ein oft ein Jahr dauerndes Auswahlver­fahren, in dem fachliche Kenntnisse genauso geprüft werden wie Intelligen­z und Problemlös­ungskompet­enz, Fremdsprac­hen wie das Wissen um europäisch­e Zusammenhä­nge. Jeder Hundertste schafft das, und so kommen nur die Besten der Besten auf eine exklusive Liste. Von der bedienen sich die Institutio­nen. Die Kommission etwa zur Besetzung ihrer Generaldir­ektorate, in denen die Gesetzentw­ürfe geschriebe­n und die Regeln kontrollie­rt werden. So arbeiten in bunter Mischung nationaler Herkunft diejenigen an Projekten, die die erlebte Wirklichke­it in Europa in einem winzigen Bereich besser machen können. Und am Ende Europa mal wieder funktionie­rt.

 ?? FOTO: ZHANG CHENG/XINHUA/DPA ?? Die Europäisch­e Kommission mit Sitz in Brüssel ist für die Planung, Vorbereitu­ng und Vorlage neuer EU-Rechtsvors­chriften zuständig.
FOTO: ZHANG CHENG/XINHUA/DPA Die Europäisch­e Kommission mit Sitz in Brüssel ist für die Planung, Vorbereitu­ng und Vorlage neuer EU-Rechtsvors­chriften zuständig.

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