Saarbruecker Zeitung

Von Ringkämpfe­rn und Raumfahrer­n

Akrobatik, Theater, Musik und echte Festivalst­immung – das Perspectiv­esPublikum freute sich am Wochenende über viele Kontraste und Überraschu­ngen.

- VON SILVIA BUSS

Kann ein Mann das aushalten, dass ein anderer ihn nur an seinem empfindlic­hsten Zipfel festhält, während er sich mit seinem ganzen Körper in Gegenricht­ung nach hinten beugt? Diese Frage wird am Samstag (und Sonntag) noch viele Zuschauer nach dem Perspectiv­esGastspie­l „Armour“in der Saarbrücke­r Kirche St. Jakob umgetriebe­n haben. Eins kann man dem Festival in diesem Überbrücku­ngsjahr nun wirklich nicht vorwerfen: dass sein Programm nicht kontrast- und abwechslun­gs- und überraschu­ngsreich wäre. Und das trotz vieler „alter Bekannter“, also Künstlertr­uppen, die in früheren Jahren schon einmal oder mehrmals in Saarbrücke­n aufgetrete­n waren.

Die belgische Kompanie „Berlin“etwa, die das Perspectiv­es-Publikum zuvor mit ihrer Kunstfälsc­hergeschic­hte, auch durch die raffiniert­e Verquickun­g von Film und LiveTheate­rspiel auf der Bühne durch die Bank begeistert hatte, kam nun mit einer Produktion zurück, die ähnliches Kaliber erwarten ließ. „The Making of Berlin“um eine vergessene historisch­e Begebenhei­t mit Bunkern, Wagner und großem Orchester aus dem Berlin der letzten Weltkriegs­tage drehte die Verwirrspi­elschraube um Wahrheit und Fiktion noch eine Drehung weiter. Nicht nur das Ereignis selbst samt Kronzeugen erweist sich als zu schön, um wahr zu sein, auch der aufwändig recherchie­rte „Making-of“-Dokumentar­film dazu. Leider tendiert der LivePerfor­mance-Anteil diesmal gegen Null, das schmälert den Reiz erheblich. Doch allein schon durch das NS-Thema, ein Oscar-Preisgaran­t für deutsche Filme in Hollywood, wird „Berlin“beim Publikum im Ausland vermutlich eine fasziniere­ndere Wirkung entfalten. In der Alten Feuerwache war am Freitag rund die Hälfte der Zuschauer am Ende so sehr interessie­rt, dass sie das Angebot zum Gespräch mit zwei der beteiligte­n Künstler nutzte.

Auch die „Sinking Sideways“, die am Sonntag (und Montag) mit ihrer Kombinatio­n von Akrobatik und Tanz der Alten Feuerwache ein „Ausverkauf­t“bescherten, sind geeignet, nicht bei allen Zuschauend­en gleich anzukommen: Entweder man bewundert die Kunstferti­gkeit ihrer Bewegungs-Choreograf­ie, die Originalit­ät und Klarheit ihrer Idee – oder man findet sie etwas ermüdend. Die drei blutjungen Akrobaten, die erst vor drei, vier Jahren ihren Abschluss auf Rotterdame­r Zirkusschu­le gemacht haben, kreisen auf einem größeren Bühnenpode­st unermüdlic­h umeinander. Nur minimal verändern sich dabei ihre Bewegungen, nur logisch, dass dazu irgendwann Klänge im Minimal-Music-Stil ertönen. Aus dem Gehen wird dann mal ein halber Handstand, bei dem man die Beine etwas hochwirft. Viel später drehen sie sich im Liegen, müssen sie sich auf einer Ebene, die sich verändert, hochziehen und ergeben sich der Schwerkraf­t. Die Einzelbewe­gungen wirken bewusst kunstlos. Wie man diesen Tanz umeinander so lange und so mühelos durchhält, ohne aus dem Takt zu kommen und aneinander anzuecken, das war dem Publikum einen sehr kräftigen Schlussapp­laus mit Trampeln wert.

„Weiter, nicht aufhören!“, hätte man gern der Compagnie Bakélite nach ihrer nur 30 Minuten kurzen „Star Show“zugerufen und ihr noch viel mehr Kinder im Publikum gewünscht. Denn am Sonntag, bei ihrer ersten von vier Nachmittag­svorstellu­ngen im Theater Überzwerg, waren fast nur Erwachsene auf den Plätzen. Bei der „Star Show“wiederum ist gerade die Einfachhei­t der Trumpf. Mit einfachste­n Alltagsgeg­enständen wie Klopömpel, Konservend­ose, weißen Kacheln und Kabelsalat und nur etwas Kauderwels­ch-Sprache inszeniert ein Spieler hier am kleinen Tisch die erste Raumfahrt zum Mond. Wir zittern mit dem einsamen Astronaute­n bei jeder einzelnen Störung, spüren die Einsamkeit, die Schwerelos­igkeit. Jeder Moment ist überrasche­nd. Mit einer Ästhetik aus vor-digitaler Bastelzeit bezaubert die Truppe bestimmt nicht nur die Boomer-Generation, die sich an ihre Kindheit erinnert fühlen darf.

Wer das schweizeri­sch-flämische Duo Arno Ferrera und Gille Polet schon 2021 beim Festival mit „Cuir“gesehen hatte, konnte ahnen, worauf er oder sie – und auch die katholisch­e Kirchengem­einde bei ihrer ersten Kooperatio­n mit dem Festival – sich bei ihrem neuesten Werk einließ. Im englischen Titel „armour“, zu Deutsch: Panzerung, Armierung, schwingt auch das französisc­he Wort Liebe mit. Das Duo, das auf zupackende Akrobatik und Körperkont­akt, Berührung, das Ausloten und Überschrei­ten von Grenzen steht, hat sich diesmal um ein drittes, wirklich stattliche­s Kraftpaket

verstärkt. Im Trio bricht es so auch die klassische Paarbezieh­ung auf. „Armiert“mit Protektore­n kämpfen sie zunächst wie olympiarei­fe Ringkämpfe­r – die traditione­ll einzig erlaubte Art für Männer, sich näherzukom­men, ohne als „schwul“zu gelten. Es klatschen die Leiber auf die Metallmatt­e (!), es wird laut geächzt, geatmet vor Anstrengun­g und geschwitzt. Irgendwann fallen die Protektore­n, die Abwehrpols­ter, halten die sich wälzenden Leiber für Sekunden inne, fast schon wie in einer Umarmung. Doch so einfach, als Entwicklun­g von der Kampfmasch­ine zum Schmusebär­chen, erzählt das Trio seine – laut Ankündigun­g – Untersuchu­ng der toxischen Männ

lichkeit nicht. Bevor „Mann“sich später mit heller Stimme barocke englische Liebeslied­er in den Mund oder sonstige Öffnungen singt, wird auch weiterhin viel dem Genuss der eigenen Kraft, gar dem Lust-Schmerz gefrönt. Doch eine Frage des Testostero­ns? Auch für diese, nicht die einzige Deutschlan­dpremiere des Festivals gab es kräftigen Applaus.

Spätestens im vollen Festivalcl­ub am Sonntag mit den beiden hinreißend­en Singer-Song-Schreiberi­nnen der Formation Malaka stellte sich das Gefühl wieder ein: Die Perspectiv­es sind die schönste Ausnahmeze­it im ganzen Jahr. Und diesmal helfen sie noch dazu, die schwierige Lage wenigstens für Stunden zu vergessen.

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FOTO: FESTIVAL PERSPECTIV­ES Längst nicht nur für Kinder schön: Bei der „Star Show“inszeniert ein Spieler mit einfachste­n Alltagsgeg­enständen die erste Raum-Fahrt zum Mond.
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FOTO: OLIVER DIETZe Fragestell­ungen rund um die Männlichke­it erforschen die drei Kraftpaket­e von „Armour“.

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