Von Ringkämpfern und Raumfahrern
Akrobatik, Theater, Musik und echte Festivalstimmung – das PerspectivesPublikum freute sich am Wochenende über viele Kontraste und Überraschungen.
Kann ein Mann das aushalten, dass ein anderer ihn nur an seinem empfindlichsten Zipfel festhält, während er sich mit seinem ganzen Körper in Gegenrichtung nach hinten beugt? Diese Frage wird am Samstag (und Sonntag) noch viele Zuschauer nach dem PerspectivesGastspiel „Armour“in der Saarbrücker Kirche St. Jakob umgetrieben haben. Eins kann man dem Festival in diesem Überbrückungsjahr nun wirklich nicht vorwerfen: dass sein Programm nicht kontrast- und abwechslungs- und überraschungsreich wäre. Und das trotz vieler „alter Bekannter“, also Künstlertruppen, die in früheren Jahren schon einmal oder mehrmals in Saarbrücken aufgetreten waren.
Die belgische Kompanie „Berlin“etwa, die das Perspectives-Publikum zuvor mit ihrer Kunstfälschergeschichte, auch durch die raffinierte Verquickung von Film und LiveTheaterspiel auf der Bühne durch die Bank begeistert hatte, kam nun mit einer Produktion zurück, die ähnliches Kaliber erwarten ließ. „The Making of Berlin“um eine vergessene historische Begebenheit mit Bunkern, Wagner und großem Orchester aus dem Berlin der letzten Weltkriegstage drehte die Verwirrspielschraube um Wahrheit und Fiktion noch eine Drehung weiter. Nicht nur das Ereignis selbst samt Kronzeugen erweist sich als zu schön, um wahr zu sein, auch der aufwändig recherchierte „Making-of“-Dokumentarfilm dazu. Leider tendiert der LivePerformance-Anteil diesmal gegen Null, das schmälert den Reiz erheblich. Doch allein schon durch das NS-Thema, ein Oscar-Preisgarant für deutsche Filme in Hollywood, wird „Berlin“beim Publikum im Ausland vermutlich eine faszinierendere Wirkung entfalten. In der Alten Feuerwache war am Freitag rund die Hälfte der Zuschauer am Ende so sehr interessiert, dass sie das Angebot zum Gespräch mit zwei der beteiligten Künstler nutzte.
Auch die „Sinking Sideways“, die am Sonntag (und Montag) mit ihrer Kombination von Akrobatik und Tanz der Alten Feuerwache ein „Ausverkauft“bescherten, sind geeignet, nicht bei allen Zuschauenden gleich anzukommen: Entweder man bewundert die Kunstfertigkeit ihrer Bewegungs-Choreografie, die Originalität und Klarheit ihrer Idee – oder man findet sie etwas ermüdend. Die drei blutjungen Akrobaten, die erst vor drei, vier Jahren ihren Abschluss auf Rotterdamer Zirkusschule gemacht haben, kreisen auf einem größeren Bühnenpodest unermüdlich umeinander. Nur minimal verändern sich dabei ihre Bewegungen, nur logisch, dass dazu irgendwann Klänge im Minimal-Music-Stil ertönen. Aus dem Gehen wird dann mal ein halber Handstand, bei dem man die Beine etwas hochwirft. Viel später drehen sie sich im Liegen, müssen sie sich auf einer Ebene, die sich verändert, hochziehen und ergeben sich der Schwerkraft. Die Einzelbewegungen wirken bewusst kunstlos. Wie man diesen Tanz umeinander so lange und so mühelos durchhält, ohne aus dem Takt zu kommen und aneinander anzuecken, das war dem Publikum einen sehr kräftigen Schlussapplaus mit Trampeln wert.
„Weiter, nicht aufhören!“, hätte man gern der Compagnie Bakélite nach ihrer nur 30 Minuten kurzen „Star Show“zugerufen und ihr noch viel mehr Kinder im Publikum gewünscht. Denn am Sonntag, bei ihrer ersten von vier Nachmittagsvorstellungen im Theater Überzwerg, waren fast nur Erwachsene auf den Plätzen. Bei der „Star Show“wiederum ist gerade die Einfachheit der Trumpf. Mit einfachsten Alltagsgegenständen wie Klopömpel, Konservendose, weißen Kacheln und Kabelsalat und nur etwas Kauderwelsch-Sprache inszeniert ein Spieler hier am kleinen Tisch die erste Raumfahrt zum Mond. Wir zittern mit dem einsamen Astronauten bei jeder einzelnen Störung, spüren die Einsamkeit, die Schwerelosigkeit. Jeder Moment ist überraschend. Mit einer Ästhetik aus vor-digitaler Bastelzeit bezaubert die Truppe bestimmt nicht nur die Boomer-Generation, die sich an ihre Kindheit erinnert fühlen darf.
Wer das schweizerisch-flämische Duo Arno Ferrera und Gille Polet schon 2021 beim Festival mit „Cuir“gesehen hatte, konnte ahnen, worauf er oder sie – und auch die katholische Kirchengemeinde bei ihrer ersten Kooperation mit dem Festival – sich bei ihrem neuesten Werk einließ. Im englischen Titel „armour“, zu Deutsch: Panzerung, Armierung, schwingt auch das französische Wort Liebe mit. Das Duo, das auf zupackende Akrobatik und Körperkontakt, Berührung, das Ausloten und Überschreiten von Grenzen steht, hat sich diesmal um ein drittes, wirklich stattliches Kraftpaket
verstärkt. Im Trio bricht es so auch die klassische Paarbeziehung auf. „Armiert“mit Protektoren kämpfen sie zunächst wie olympiareife Ringkämpfer – die traditionell einzig erlaubte Art für Männer, sich näherzukommen, ohne als „schwul“zu gelten. Es klatschen die Leiber auf die Metallmatte (!), es wird laut geächzt, geatmet vor Anstrengung und geschwitzt. Irgendwann fallen die Protektoren, die Abwehrpolster, halten die sich wälzenden Leiber für Sekunden inne, fast schon wie in einer Umarmung. Doch so einfach, als Entwicklung von der Kampfmaschine zum Schmusebärchen, erzählt das Trio seine – laut Ankündigung – Untersuchung der toxischen Männ
lichkeit nicht. Bevor „Mann“sich später mit heller Stimme barocke englische Liebeslieder in den Mund oder sonstige Öffnungen singt, wird auch weiterhin viel dem Genuss der eigenen Kraft, gar dem Lust-Schmerz gefrönt. Doch eine Frage des Testosterons? Auch für diese, nicht die einzige Deutschlandpremiere des Festivals gab es kräftigen Applaus.
Spätestens im vollen Festivalclub am Sonntag mit den beiden hinreißenden Singer-Song-Schreiberinnen der Formation Malaka stellte sich das Gefühl wieder ein: Die Perspectives sind die schönste Ausnahmezeit im ganzen Jahr. Und diesmal helfen sie noch dazu, die schwierige Lage wenigstens für Stunden zu vergessen.