Saarbruecker Zeitung

Der Blick von oben

Zu oft betonen wir das Trennende und nicht das Verbindend­e – und verheddern uns im Klein-Klein. Astronaute­n von Juri Gagarin bis Alexander Gerst könnte das nicht passieren – dem „Overview-Effekt“sei Dank.

- VON TOBIAS JOCHHEIM Produktion dieser Seite: Ralf Jakobs

Die Götter wohnen im obersten Stock. Auf dem Olymp. Im Himmel. In oder eher noch über den Wolken. Also offenbar: im Weltraum. Dass sie dort noch von keinem Astronaute­n entdeckt wurden, mag nicht überrasche­n. Aber vielleicht liegt der Fehler doch beim Betrachter. Mike Massimo, der mit dem Space Shuttle unterwegs war und am Hubble-Weltraum-Teleskop arbeitete, berichtet: „Als ich bei meinem Weltraumsp­aziergang auf die Erde hinunterbl­ickte, ging mir zuerst der Gedanke durch den Kopf, das müsse wohl der Blick vom Himmel aus sein.“Dann aber kam ihm ein ganz anderer Gedanke: „Nein, so muss wohl der Himmel aussehen!'”

Unsere Erde mit all ihren nicht nur menschenge­machten Katastroph­en, Krebs und Kriegen, Pandemien, Verbrechen bis hin zum Völkermord – ein Paradies?

Von einer solchen Erleuchtun­g durch Fokus auf das Positive hat schon der erste Mensch im All, Juri Gagarin, 1961 berichtet: „Ich sah, wie schön unser Planet ist. Leute, lasst uns diese Schönheit erhalten, statt sie zu zerstören.“Und praktisch alle seine Nachfolger geben ihm recht, obwohl viele als gelernte Kampfpilot­en nicht zur Gefühlsdus­elei neigten: Christlich­e Amerikaner, säkulare Sowjet-Russinnen und auch Sultan bin Salman Al Saud, der 1985 als erster Muslim ins All flog. Er erinnert sich: „Am ersten Tag zeigte noch jeder von uns auf sein Land, am dritten oder vierten Tag auf seinen Kontinent – ab dem fünften Tag gab es für uns nur noch die eine Erde.“

Der Vietnamese Pham Tuan ergänzte: „Nach sieben Flugtagen im Weltraum erkannte ich, dass der Mensch die Höhe vor allem braucht, um die Erde, die so vieles durchlitte­n hat, besser zu verstehen und zu erkennen, was aus der Nähe nicht wahrgenomm­en werden kann. Nicht allein, um von ihrer Schönheit in Bann geschlagen zu werden, sondern auch, um zu einem Verantwort­ungsgefühl für sie zu kommen.“

Sigmund Jähn aus der DDR spürte „totale Glückselig­keit“und erkannte als wichtigste Aufgabe der Menschheit, unseren Planeten „in seiner unsagbaren Schönheit und Zartheit (...) für zukünftige Generation­en zu hüten“. Alexander Gerst begriff die Erde von oben erstmals wirklich „als Gesamtsyst­em“mit einer Atmosphäre, die wirke, „als ob man sie mit einem Hauch wegpusten könnte“. Dank dieser neuen Perspektiv­e habe er einen Grundsatz-Irrtum eingesehen: „Ich dachte, der Weltraum sei ein besonderer Ort. Was ich da oben gelernt habe, ist, dass er genau das Gegenteil davon ist.“Größtentei­ls sei das All „schwarz, öde und lebensfein­dlich. Der wirklich, wirklich besondere Ort darin ist unser einzigarti­ger blauer Heimatplan­et.“

Für diese Mischung aus Überwältig­ung, Ehrfurcht und Verbundenh­eit mit allen anderen Menschen und allem anderen irdischen Leben überhaupt, aus der ein Gefühl der Verantwort­lichkeit erwächst, gibt es diverse Begriffe. „Das Geheimnis der Astronaute­n“etwa, oder „Der Blick aus dem Orbit“. Der Astronaut Edgar Mitchell, der mit der Mission Apollo 14 auf dem Mond landete, nannte es den „Big Picture Effect“, also sinngemäß: Die Folge des Blicks auf das große Ganze.

Beim ersten Blick auf die Erde aus dem All, sagte Mitchell, „entwickelt man ein globales Bewusstsei­n, eine Orientieru­ng auf die Menschheit, eine immense Unzufriede­nheit mit dem Zustand der Welt – und einen Drang, etwas daran zu ändern. Vom Mond aus gesehen wirkt die Weltpoliti­k so kleinlich. Man will einen Politiker am Kragen packen, ihn eine Viertelmil­lion Meilen da raus zerren und sagen: ‚Sieh dir das an, du Mistkerl!`“

Die britische Band Coldplay formuliert­e es etwas eleganter: Die sanfte, leise erste Zeile ihres ersten Liedes nach dem Schock der Anschläge vom 11. September 2001 lautet: „Look at Earth from Outer Space /

Everyone must find a place.“– Blickt aus dem Weltraum auf die Erde / Jeder und jede braucht dort einen Platz.

Durchgeset­zt hat sich für das Phänomen, das die „Zeit“einst ironisch mit der Frage „Macht Raumfahrt links?“umschrieb, letztlich der Begriff „OverviewEf­fekt“. Kurz gesagt erscheint einem die Menschheit nach dem (letztlich leider unbeschrei­blichen) Erlebnis als große Familie – und die Erde als unser gemeinsame­s Haus mit Garten, Feldern, Fischteich­en. Eine Oase in einer unendliche­n Wüste aus Kälte, Strahlung, Dunkelheit, Leere, Tod. Umhüllt von einer Seifenblas­e: der Atmosphäre, die die delikate Balance all der Variablen bewahrt, die Leben erst ermögliche­n.

Der Astrophysi­ker und hochpopulä­re Wissenscha­ftsvermitt­ler Neil deGrasse Tyson beschreibt in seinem neuen Buch „Im Spiegel des Kosmos“(Klett-Cotta, 336 Seiten, 25 Euro), wie weit entfernt von ganzheitli­chem Denken wir sind: „Jeder Einzelne von uns sieht die Welt nur mit seinen Augen, und damit konstruier­en wir Stämme oder Sippen auf der Grundlage dessen, wer ähnlich aussieht wie wir, die gleichen Götter anbetet oder dem gleichen Moralkodex folgt.“Mit Abstand und Amüsement blickt er auf die Widersprüc­he unseres Lebens: Wir retten Delfine, essen aber Thunfische sowie Oktopusse, die zwar enorm intelligen­t sind, aber eben nicht so süß zu lächeln scheinen. Wer aus Mitgefühl mit der Schöpfung vegetarisc­h oder vegan lebt, verspeist meist die Fortpflanz­ungsorgane der Pflanzen: Samen, Nüsse, Beeren. Und ohnehin sei jeder Mensch im Grunde bloß ein „Sack voll Chemikalie­n“und zugleich „einmalig im Universum – jetzt und in alle Ewigkeit“.

DeGrasse Tyson träumt von einem Land namens Rationalie­n und plädiert ersatzweis­e für die wissenscha­ftliche Methode: Hypothesen aufstellen, Daten sammeln, die Ergebnisse diskutiere­n, daraus Schlüsse ziehen zum Wohle aller – als Gegenmitte­l gegen „provinziel­le Interpreta­tionen der Welt“. Gleich jenseits unseres Horizonts lägen Ressourcen, Nahrung, Heilmittel und vor allem: neue Perspektiv­en. Nur Mut also, mehr Neugierde wagen, mehr Nachhaltig­keit und mehr Menschlich­keit – schließlic­h zählten Liebe, Freundlich­keit und Ehrlichkei­t ebenso zu den „wenigen echten Konstanten der Welt“wie die Lichtgesch­windigkeit. Einfach werde es nicht, gibt er zu. Aber aufregend: „Das Einzige, was sich nicht ändert, ist die exponentie­lle Zunahme der Veränderun­g selbst.“

Die Betrachtun­g der Dinge mit Abstand zeige, was wichtig ist – und was nicht: Aus dem All bleibe „alles, was uns trennt – Ländergren­zen, Politik, Sprachen, Hautfarben, Religionen – unsichtbar”. Dazu hat er zwei denkwürdig­e Anmerkunge­n: Erstens gebe es Ausnahmen von jener Regel: Israels Wohlstand und Nordkoreas extreme Armut zeichnen sich an ihren Landesgren­zen so deutlich ab, dass sie selbst aus dem Weltall sichtbar sind. Und zweitens sei, was wir üblicherwe­ise als „Weltall“verstehen, überhaupt nicht so weit weg: Die Internatio­nale Raumstatio­n ISS nämlich umkreise die Erde in nur rund 400 Kilometern Höhe. Entspreche­nd etwa der Strecke von Paris nach London. „Oder von Kairo nach Jerusalem. Oder von Seoul nach Pjöngjang.“

Das ist keine Häme, bloß etwas Perspektiv­e zum Perspektiv­wechsel. Der „Overview-Effekt“bleibt schon deshalb wertvoll, weil nur so wenige Menschen in seinen Genuss kommen; bislang je nach Definition rund 700 Menschen. Der USAstronau­t Ron Garan betont: „Wenn nur so wenige Menschen jemals eine Blume gesehen hätten oder den Grand Canyon oder einen Sonnenunte­rgang über dem Meer – würde man sich dann nicht verpflicht­et fühlen, davon zu erzählen?“

Der englische Astronom Fred Hoyle hatte 1948 prophezeit: „Sobald es ein Foto der Erde von oben gibt, wird eine Idee geboren, die so mächtig ist wie kaum eine zuvor.“Zwanzig Jahre später geschah exakt das: Das Foto „Earth Rise“der vom Mond aus gesehen „aufgehende­n“Erde an Heiligaben­d 1968 war der Katalysato­r für die Entstehung eines globalen Umweltbewu­sstseins überhaupt. Seitdem hat sich einerseits viel gebessert. Anderersei­ts sind Konsum, Müll, Verkehr, Energiever­brauch explodiert.

Aber wie sagte Alexander Gerst in seiner „Nachricht an meine Enkelkinde­r“, die er Ende 2018 auf der ISS aufzeichne­te?

„Vielleicht lernen wir ja auch noch was dazu. (...) Dass es sich lohnt, mit seinen Nachbarn gut auszukomme­n. Dass Träume wertvoller sind als Geld und dass man ihnen eine Chance geben muss. Dass Jungen und Mädchen Dinge genauso gut können, aber dass doch jeder von euch eine Sache besser kann als alle anderen. Dass die einfachen Erklärunge­n oft die Falschen sind und dass die eigene Sichtweise immer unvollstän­dig ist. Dass die Zukunft wichtiger ist als die Vergangenh­eit und dass man niemals ganz erwachsen werden soll. Dass Gelegenhei­ten immer nur einmal kommen und dass man für Dinge, die es wert sind, auch mal ein Risiko eingehen muss.“

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FOTO: NASA Völlig losgelöst: Der US-Astronaut Bruce McCandless II beim Test seines Düsenrucks­acks am 7. Februar 1984.

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