Eine Verpflichtung für jeden Einzelnen
Politisch motivierte Gewalt hat massiv zugenommen. Diese erschütternde Entwicklung kann nicht verwundern. Ausgerechnet in der Woche, in der das Land den 75. Geburtstag des Grundgesetzes feiert, zeigt sich, dass die Würde des Menschen eben nicht überall und nicht für alle unangetastet bleibt.
Hört man den Betroffenen rechter, rassistischer oder antisemitischer Straftaten zu, dann bekommt man eine grobe Vorstellung davon, welch tiefe Wunden entstehen können. Es sind nicht nur körperliche Leiden nach tätlichen Angriffen, sondern auch innere Verletzungen, die womöglich viel länger brauchen, um zu heilen. Das zeigt auch die Geschichte von Pedro M., der am Dienstag bei der Vorstellung der neuen Gewaltstatistik der Beratungsstellen für Betroffene von einem rassistischen Angriff auf seine Mutter in Dresden erzählt.
Sie stammt aus Mosambik, lebt seit fast 40 Jahren in Deutschland und fühlte sich sicher in Dresden. Bis Anfang April ein Mann sie auf offener Straße attackierte und ihr zwei Mal ins Gesicht schlug. Bis heute hat Pedro M.s Mutter den Angriff nicht ganz verarbeitet. Das Gefühl einer ständigen Bedrohung begleitet sie. Es ist nur ein Beispiel von vielen, das im Zahlenwust der Statistik unterzugehen droht. Doch es ist wichtig, die individuellen Fälle wahrzunehmen, um das Ausmaß zu begreifen.
Und es ist groß, zu groß. Das zeigen auch neue, vom Bundeskriminalamt erfasste Zahlen. Besonders drastisch sind 2023 die antisemitischen Straftaten hoch geschnellt: Der Anstieg um ganze 95 Prozent (auf 5164 Taten) im Vergleich zu 2022 lässt sich vor allem auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 zurückführen. Deutlich zugenommen haben auch rechte Straftaten, Straftaten gegen Geflüchtete, Gewalt gegen politisch engagierte Menschen oder politisch motivierte Tötungsdelikte. SPD-Innenministern Nancy Faeser sprach am Dienstag von einem „neuen Höchststand von Straftaten“, die sich gegen die offene und freiheitliche Gesellschaft richten würden. Tatsächlich lässt sich an der Statistik ablesen, wie sehr die Demokratie unter Druck ist. Dieser Befund kann nicht verwundern, fügt er sich doch ein in eine längere Entwicklung. So hat sich die politisch motivierte Kriminalität innerhalb von zehn Jahren fast verdoppelt. Und doch sind die jüngsten Zahlen erschütternd, gerade in einer Woche, in der das Grundgesetz Geburtstag feiert. Die Würde des Menschen ist unantastbar – so steht es in Artikel 1. Doch es zeigt sich, dass die Würde des Menschen eben nicht überall und nicht für alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen unangetastet bleibt. Anders lassen sich die Zahlen nicht interpretieren.
Im Grundgesetz heißt es weiter: Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen sei „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Das Deutsche Volk bekenne sich darum „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Daraus ergibt sich sowohl eine Aufgabe für die politisch Verantwortlichen, aber eben auch für die gesamte Gesellschaft, sich gegen Hass, Hetze und Gewalt zu positionieren und einzuschreiten. Ein Trost für die Betroffenen ist das noch nicht. Aber eine Verpflichtung für jeden Einzelnen.