„Hokuspokus“: Das Leben, so schön, so schwer
Jubel und stehende Ovationen: Beim „Perspectives“- Gastspiel der Familie Flöz gab es viel Applaus für das neue Stück „Hokuspokus“. Dabei war es nicht mal das Beste der originellen Truppe.
Ein bisschen unwirklich ist es schon. Zwei Tage lang hat man Bilder von Schlamm und Wassermassen gesehen, von ausgeräumten Kellern, zerstörten Wohnungseinrichtungen. Und dann sitzt man da, mitten in einem fast bis auf den letzten Platz gefüllten Staatstheater voller gut gelaunter und gut gekleideter Menschen und wartet auf das Gastspiel der Familie Flöz beim Festival „Perspectives“. Man könnte fast meinen, die Bilder vom Wochenende hätte man nur in einem Katastrophenfilm gesehen. Aber natürlich ist die Katastrophe da draußen real. Vielleicht passt es da ganz gut, dass diese vierte Produktion der Berliner Flöz-Familie die düsterste ist, die bisher beim Festival zu sehen war.
Bei „Hokuspokus“am Pfingstmontag im großen Haus des Staatstheaters war vieles anders als bei den Flöz-Stücken, die in den Jahren zuvor beim Festival gastierten. Die bezaubernd komische Leichtigkeit, die „Hotel Paradiso“(2015), „Teatro Delusio“(2018) oder „Feste“(2023) dominierte, ist im 2022 entstandenen Stück „Hokuspokus“weit weniger ausgeprägt. In dieser Geschichte einer Familie dominiert das Tragische, Düstere.
Und die Truppe verzichtet sogar auf ihr großes Überraschungsmoment, wenn das Publikum erst beim Schlussapplaus erkennt, wie wenige Darstellende hinter all den vielen verschiedenen Masken stecken. In „Hokuspokus“betreten gleich zu Beginn alle sechs Mitspielenden und -musizierenden die Bühne
und stimmen, angeführt von der Sängerin Sarai O'Gara, einen gregorianisch anmutenden polyphonen Gesang an.
„Hokuspokus“: Den Titel hat die Gruppe gewählt, weil der Begriff als Verballhornung des christlichen „Hoc est enim corpus meum“, „Dies ist mein Leib“, entstanden sein soll. Also aus einem zentralen Moment der christlichen Messe. Und man könnte aus dem Stück tatsächlich jene christliche Denkungsart herauslesen, wie sie im bekannten, und schwer desillusionierenden Psalm 90:10 steht: „Das Leben wäret 70 Jahr... und wenn's köstlich gewesen ist, so ist`s Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon“.
Alles beginnt auch hier mit einer Schöpfungsgeschichte. Mit Bühnen-Projektionen aus Sandmalerei (Cosimo Miorelli) entsteht eine paradiesische Welt. In der findet sich das Paar, dessen Leben „Hokuspokus“begleiten wird. Verspielt, lustig, so geht es los. Nur mit Körpersprache wird in Sekunden der Charakter der Figuren skizziert. Das ist dieses klei
ne Theater-Wunder, das die Truppe bei jedem ihrer Stücke erschafft. Die Flözsche Eva ist selbstbewusst, man könnte sagen: resolut. Ihr Adam eher ein verträumter, liebenswerter Tollpatsch, der mit allem immer ein bisschen länger braucht.
Das Paradies währt indes nicht lange, flugs landen die beiden in eigenen vier Wänden. Und kaum hat der Makler die Schlüssel übergeben, kräht bereits das erste Kind aus dem Nebenzimmer. Es folgen Kind Nummer zwei und drei. Das Baby vom Anfang ist fünf Minuten später ein mürrischer Teenager, zu dem der hilflose Vater vergeblich Kontakt sucht.
In diesem Mikrokosmos einer Familie finden sich sicher viele Zuschauer wieder. Einfache Alltagsszenen spielt die Truppe, von Hausaufgabenmachen über Fernsehabend bis Kindergeburtstag. Es ist faszinierend zu sehen, wie die Darstellenden dabei die Charaktere hinter den Masken zeichnen. Durch kleine Gesten, eine minimal andere Körperhaltung ist sogar das Heranwachsen der Kinder erkennbar.
Die am liebevollsten gearbeitete Figur ist der Vater. In diesem „Adam“steckt die ganze Kunst der Flözens, ihre Fähigkeit, Jacques-Tati-hafte Figuren zu entwerfen, die einen mit ihrem beherzten Scheitern berühren. Voll des guten Willens müht sich der arme Kerl, macht sich auf dem Kindergeburtstag zum Affen, versucht, seiner Frau und den Kindern gerecht zu werden – und am Ende hängen sie doch wieder alle bei Mama im Arm, und er steht irgendwie daneben. Manche Väter dürften das kennen.
Bis hierhin ist „Hokuspokus“ein durchaus typisches Flöz-Stück. Auch wenn man schon irgendwie ahnt, dass es diesmal anders wird. Nicht nur wegen der oft eher düsteren Musikbegleitung und dem geheimnisvollen „Requisiteur“. Der trägt keine Maske, taucht aber wie eine Schöpfer-Figur immer wieder auf, legt mal eine Decke zurecht, mal eine Fernbedienung aufs Sofa. Er begleitet das Leben der Familie, aber er hat nichts Beschützendes, eine leichte Drohung geht von dieser weißbärtigen Gestalt im schwarzen Anzug aus.
Und so kommt es dann auch. Das Stück kippt von einem Moment zum anderen. Die bis dahin eher durchschnittliche Familie wird zu Hiobs Familie, von Gott heimgesucht. Das jüngste Kind stirbt bei einem Unfall. Seine Figur steht dabei, Gesicht zum Publikum, Ball in der Hand, regungslos an der Bühnenrampe, man hört das Geräusch von Auto, Bremsen, Quietschen. Dann zieht der Darsteller die Maske aus und verlässt die Bühne. So schlicht, so schnell kann man den Tod spielen.
Danach kommt kein Glück mehr in diese Familie. Die Eltern sind nur wenige Minuten später schon alt und allein. Es huscht mal eine schwangere Tochter durchs Bild, aber in „Hokuspokus“kommen keine Kinder und auch keine Enkel zu Besuch. Dafür werden die Alten aus ihrer Wohnung gedrängt. Ein junges Paar taucht, Selfies machend, zur Besichtigung auf, man hört BaustellenGeräusche. Hier wird saniert. Adam und Eva stehen, ganz in Schwarz und gebeugt, mit ihren Koffern im Gewitterregen.
Das passt zwar auf makabre Weise zur aktuellen Situation draußen vor den Theatertüren, aber es wird einem dann doch ein bisschen viel Hiob und Altes Testament. Auch in den früheren Flöz-Stücken herrschte nie nur eitel Sonnenschein. Abgründe sichtbar zu machen in aller Komik, diese Fähigkeit hat die Truppe ja so einzigartig gemacht. Aber bei „Hokuspokus“ist ihnen ein bisschen das Gespür für die Dosis abhanden gekommen. Man hat fast das Gefühl, als hätte die Truppe sich selbst an ihrem Erfolgsrezept satt gegessen und wollte jetzt mal etwas anderes, etwas Schwereres machen. Wer die Familie Flöz noch nie gesehen hatte, war trotzdem begeistert. Wir anderen haben was vermisst.
Das Festival „Perspectives“dauert noch bis Samstag, 25. Mai. Am heutigen Mittwoch gibt es um 19 Uhr die „Sawdust Symphony“im Zirkuszelt vor dem Staatstheater, um 20.30 Uhr, die kostenlose Open-air-Artistik „La Boule“im Innenhof der Stadtgalerie und um 21 Uhr „Le Repos du Guerrier“, ein Zirkus-Solo in der Kirche St. Jakob in Alt-Saarbrücken. Weitere Infos: www.festival-perspectives.de