Die Würde des Menschen
Es ist Mai 1949, die Zeit drängt, der scheidende amerikanische Militärgouverneur, General Clay, mahnt den Parlamentarischen Rat, seine Arbeit zu beenden, bevor Clay noch im Mai abberufen wird, sodass dieser sich „für die Genehmigung einsetzen kann.“
Auch die Briten raten den Deutschen, ihr Werk „schnellstmöglich fertigzustellen“, wie Carlo Schmid in einer Besprechung am 6. Mai anmerkte. Für Konrad Adenauer ist klar, die Arbeit am Grundgesetz muss bis zum 8. Mai abgeschlossen sein, damit auf den Tag vier Jahre nach dem Kriegsende in Europa ein Gesetzeswerk vorgelegt wird, um damit „eine gewisse moralische Bindung für die Westmächte zu schaffen“, und die Weststaatsgründung nicht doch noch abgesagt wird.
Die Frage des Namens
Wie sollte das Grundgesetz heißen? Hans-Christoph Seebohm, Abgeordneter der rechtskonservativen Deutschen Partei, schlägt den zum Scheitern verurteilte Titel „Grundgesetz zur Erneuerung des Deutschen Reiches“vor.
„Reich“als Namensbestandteil klingt zur damaligen Zeit nicht so seltsam, wie er sich heute anschickt. Seit dem Mittelalter ist er immer wieder Bestandteil verschiedener Staatengebilde, allerdings ist er wegen seines „aggressiven Akzents […] mit Anspruch auf Beherrschung“, wie Carlo Schmid herausstellte, disqualifiziert. Der Antrag wird mit großer Mehrheit abgelehnt.
Als Schmid schließlich „deutsche Republik“vorschlägt, formuliert Theodor Heuss „Bundesrepublik Deutschland“und argumentiert überzeugend: „Mit dem Worte Deutschland geben wir dem ganzen ein gewisses Pathos, sentimentaler und nicht machtpolitischer Art.“Unter Zustimmung einer großen Mehrheit war der Name geboren: „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“.
Kampf um Artikel 1
„Die Würde des Menschen“wacht über das Grundgesetz. In seiner Weitsichtigkeit wollte der Parlamentarische Rat sowohl als pathetisches, sich zur Vergangenheit abgrenzendes Bekenntnis und ranghöchste Norm der neuen Bundesrepublik eine Erklärung vorausschicken, die bis heute der Kern des Zusammenlebens in Deutschland symbolisiert. Artikel 1 ist ein Versprechen, ein „Nie wieder“. Nie wieder sollte der Rückfall in die Barbarei möglich sein.
Da sich dieser Bedeutung der Parlamentarische Rat bewusst war, gab es hitzige Diskussionen um die Formulierung. Ludwig Strässer, Darmstädter SPD-Regierungspräsident, formulierte nach dem Studium der am 1. Dezember 1948 verabschiedeten Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, die Würde des Menschen sei „unantastbar.“
Der Vorsitzende der FDP und spätere Bundespräsident, Theodor Heuss, merkte an, dass sich der Begriff „unantastbar“nur auf Dinge beziehen können und deswegen „scheußlich“sei. Die letztliche Formulierung, die bewusst eine gewollte Unbestimmtheit besaß, wie es Carlo Schmid und Theodor Heuss intendierten, ging auf zwei Mitarbeiter von Heuss zurück, Heinrich von Brentano (CDU) und Georg August Zinn (SPD).
Vorbilder in der Vergangenheit
Eine Formulierung mit ähnlicher Intention befand sich bereits in der Paulskirchen-Verfassung von 1849: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“. Diese befand sich allerdings noch im Abschnitt IV., Artikel III., Paragraph 138. Ihre jetzige Platzierung unter Artikel 1, Abschnitt 1 spricht Bände. Vorbilder hat die ethische Formel auch im Marxismus des 19. Jahrhunderts, in dem das „menschenwürdigen Dasein“gefordert wurde. Über die Lektüre antiker und mittelalterlicher Schriftsteller arbeiteten sich Mitglieder des Parlamentarischen Rates bis Schiller, Kant und Vertretern des katholisch geprägten Personalismus vor. Kant wurde zur Galionsfigur, da er dem Menschen als Verstandeswesen eine Würde zusprach, die es verbiete, ihn nur als Mittel und nicht als Zweck zu betrachten. Kant kam in seiner Argumentation ohne Gott aus, während im christlichen Denken, der Mensch Gott gegenüber zu tugendhaftem Handeln verpflichtet sei.
Artikel 1 beruft sich darauf, dass die Würde ein inhärentes Gut des Menschen sei und deswegen ohne Verstand oder Gott als Legitimationsgrundlage auskomme. Diese bewusst offene und kurz gehaltene Formulierung war und ist ein bedeutender Schritt. Die Würde des Menschen ist nicht an seine Herkunft, Amt, Auftreten oder Glauben gebunden. Während die Weimarer Verfassung erst im zweiten Hauptteil die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen und im ersten den Aufbau und die Aufgaben des Reichs thematisiert wird die Würde des Menschen im Grundgesetz an erste Stelle gesetzt, ergo der Staat trat hinter den Menschen zurück und mit Artikel 19 konnte ihr Wesensgehalt auch nicht mehr angetastet werden. Gerade weil die Würde des Menschen im Konkreten antastbar ist, tat der Parlamentarische Rat, der die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik nicht vorhersehen konnte, gut daran, das Ideal der unantastbaren Menschenwürde um jeden Preis gegen seine Gegner zu verteidigen.