Saarbruecker Zeitung

Steinmeier stimmt auf rauere Zeiten ein

Zur Feier des Grundgeset­zes versammelt sich die Spitze des Staates. Der Bundespräs­ident beschwört das Zusammenst­ehen der Demokraten.

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

BERLIN Vielleicht ist es das schelmisch­e Lächeln von Schauspiel­erin Katharina Thalbach. Vielleicht der Fallschirm­springer, der mit der deutschen Flagge über dem Kanzleramt abspringt. Vielleicht sind es aber auch die Klänge der Beethoven-Symphonie, die das Orchester der Berliner Philharmon­iker zum Besten gibt. All das kommt am Donnerstag zu einem sehr würdigen Staatsakt zwischen Kanzleramt und Bundestag zur Aufführung. Es ist eine Veranstalt­ung, die Gänsehaut-Momente mit einem gewissen Humor verbindet – das gelingt der deutschen Politik wahrlich nicht immer.

Es ist auch das Verdienst des Bundespräs­identen Frank-Walter Steinmeier, der die größte Rede seiner zweiten Amtszeit hält. Ihm gelingt es, den Festakt zum Inkrafttre­ten des Grundgeset­zes vor 75 Jahren mit der Geschichte beider deutscher Staaten zu verbinden und ein Ausrufezei­chen für die Demokratie zu setzen. Am Ende erhebt sich das Publikum zu seinen Ehren.

Steinmeier würdigt das Grundgeset­z als ein „großartige­s Geschenk“ für Deutschlan­d nach der nationalso­zialistisc­hen Gewaltherr­schaft. „Ein Geschenk, das nicht nur in Erinnerung bleiben darf, sondern das wir im Alltag der Republik pflegen, bewahren und verteidige­n müssen“, sagt Steinmeier. „Ich bin überzeugt: Diese Verfassung gehört zu dem Besten, was Deutschlan­d hervorgebr­acht hat.“Wer heute die Demokratie bekämpfe, „muss wissen, dass er es dieses Mal mit einer kämpferisc­hen Demokratie und mit kämpferisc­hen Demokratin­nen und Demokraten zu tun hat“. Die Zuhörer klatschen lautstark. Inzwischen sei sie eine der ältesten Verfassung­en weltweit und Vorbild für viele Verfassung­en geworden.

Das Grundgeset­z sei 1949 der „Aufbruch in eine hellere Zukunft“gewesen. Es garantiere Freiheit und erwarte Verantwort­ung. „Es schafft ein stabiles Gebäude, in dem die Menschen sich zunehmend zuhause und aufgehoben fühlen konnten, in dem die Gesellscha­ft sich entwickeln und erneuern konnte. Es ist das Modell für das friedliche Zusammenle­ben in einer Gesellscha­ft der Verschiede­nen – geschichts­bewusst und zukunftsof­fen.“

Steinmeier lässt vor den Festgästen und Spitzen der Verfassung­sorgane keinen Zweifel daran, dass sich am Feiertag für das Grundgeset­z auch Unbehagen in den Stolz auf die deutsche Verfassung mische. Viele Menschen fragten, was von den großen Verspreche­n des Grundgeset­zes bleibe, wenn Hass, Diskrimini­erung und Angriffe nahezu alltäglich seien. Folgen müsse daraus aber nicht ein kritischer Blick auf die Verfassung, sondern auf die Wirklichke­it, fordert der Bundespräs­ident. Das Grundgeset­z sei dazu Kompass und Auftrag: „Unser Grundgeset­z zeigt, was wir sein können.“

Das Land feiere ein doppeltes Jubiläum von 75 Jahren Grundgeset­z und 35 Jahren Mauerfall. Dem Mut vieler Frauen und Männer in der DDR sei zu verdanken, dass sich das Freiheitsv­ersprechen des Grundgeset­zes von 1949 nach 1989 für alle Deutschen habe erfüllen können, sagt Steinmeier. Eindringli­ch mahnt der Bundespräs­ident, „in einer Zeit der Bewährung“eine demokratie­gefährdend­e Entfremdun­g zwischen Politik und Bevölkerun­g nicht zuzulassen. Politiker und Politikeri­nnen müssten ihr Handeln erklären und die Fragen der Menschen ernst nehmen.

Der Bundespräs­ident sieht insgesamt rauere Zeiten für das Land aufziehen: „Für mich steht fest: Wir leben in einer Zeit der Bewährung. Es kommen raue, auch härtere Jahre auf uns zu. Die Antwort darauf können und dürfen nicht Kleinmut oder Selbstzwei­fel sein.“Falsch wäre es auch, von einer bequemeren Vergangenh­eit zu träumen oder täglich den Untergang des Landes zu beschwören. Dies lähme nur. „Wir müssen uns jetzt behaupten – mit Realismus, mit Ehrgeiz. Das ist die Aufgabe der Zeit. Selbstbeha­uptung ist die Aufgabe unserer Zeit!“

In der Hauptstadt ist man am Morgen des Staatsakts bereits sehr nervös. Überall Straßenspe­rrungen, auf der Spree ist die Wasserschu­tzpolizei mit Booten unterwegs. Insgesamt 1000 Polizisten sind im Einsatz, die Polizei setzt einen Hubschraub­er für Übersichts­aufnahmen aus der Luft ein. Auf dem Platz vor dem Kanzleramt sammeln sich am Mittag insgesamt rund 1100 Gäste. Darunter auch Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD), die meisten Minister, viele Regierungs­chefs der Bundesländ­er sowie Vertreter des Bundestags und weiterer Institutio­nen. Auch Altkanzler­in Angela Merkel und der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder sind anwesend. Als Katharina Thalbach und Andreja Schneider eine musikalisc­he Zeitreise durch die deutsche Geschichte intonieren, lacht Merkel an einer Stelle laut auf: „Du hast den Farbfilm vergessen“von Nina Hagen wird angespielt – dieses Lied hatte sie sich neben zwei weiteren zu ihrer Verabschie­dung gewünscht.

Auf den Staatsakt folgt von diesem Freitag an bis Sonntag ein Demokratie­fest im Berliner Regierungs­viertel, mit Musik, Diskussion­srunden, Filmen und Lichtinsta­llationen. Auch in zahlreiche­n anderen Städten finden Veranstalt­ungen statt. Doch das Motto des Tages liefert in einem Film-Einspieler ein Fotograf aus Weimar. Er habe in seinem Leben an jeder Wahl teilgenomm­en. „Wer nicht wählt, kommt in die Suppe“, sagt er lachend. Hoffentlic­h werden am Tag der Europawahl viele seinem Beispiel folgen.

„Wir müssen uns jetzt behaupten – mit Realismus, mit Ehrgeiz. Das ist die Aufgabe der Zeit.“Frank-Walter Steinmeier Bundespräs­ident

 ?? FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA ?? Bei einem Staatsakt in Berlin rief Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier dazu auf, die Errungensc­haften von Freiheit und Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidige­n.
FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Bei einem Staatsakt in Berlin rief Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier dazu auf, die Errungensc­haften von Freiheit und Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidige­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany