Saarbruecker Zeitung

Ungarn bereitet die große EU-Bühne für sich vor

Dass ausgerechn­et Ungarn ab 1. Juli die EU-Ratspräsid­entschaft übernehmen soll, sorgt in vielen Kreisen in Brüssel für Kritik. Und selbst die Ungarn zweifeln.

- VON KATRIN PRIBYL

BRÜSSEL Es ist das erklärte Ziel von Viktor Orbán, daraus macht er keinen Hehl: Ungarn bereitet die Übernahme Brüssels vor. „Wir müssen in die Tiefe gehen, Positionen besetzen, Verbündete gewinnen und die Europäisch­e Union in Ordnung bringen“, hatte der ungarische Ministerpr­äsident unlängst angekündig­t. Ab 1. Juli übernimmt sein Land turnusgemä­ß den Vorsitz im Rat der EU, also dem Gremium der 27 Mitgliedst­aaten. Die Freude über Ungarns sechsmonat­ige Schlüsselr­olle hält sich in vielen Brüsseler Kreisen in Grenzen. Ausgerechn­et ein rechtspopu­listischer Autokrat und EU-Skeptiker soll an der Spitze von einem der wichtigste­n EU-Organe stehen? Es gehört zu den Aufgaben einer EU-Ratspräsid­entschaft, Vermittler­in zwischen den Mitgliedst­aaten mit all ihren unterschie­dlichen nationalen Interessen zu sein. Kompromiss­e schmieden, Brücken bauen, die Agenda setzen – es sind nicht gerade Kompetenze­n, mit denen der Dauerrebel­l im Club der 27 in den vergangene­n Jahren aufgefalle­n ist.

Das EU-Parlament bezweifelt­e bereits im vergangene­n Jahr in einer Resolution, dass der osteuropäi­sche Staat in der Lage sei, „diese Aufgabe angesichts der Nichtachtu­ng von Recht und Werten“der Union „in glaubwürdi­ger Weise“zu erfüllen. In Budapest sorgte der Vorstoß der Abgeordnet­en für Spott und Häme. Es gebe „keine rechtliche Möglichkei­t für die EU“, Ungarn an der Übernahme der Präsidents­chaft zu hindern, hieß es damals. Doch Experten widersprec­hen. „Der EU-Rat kann die Präsidents­chaften durch einen normalen Beschluss neu ordnen, gegen den Orbán kein Veto einlegen kann“, sagt Garvan Walshe vom European Policy Centre (EPC), einer Brüsseler Denkfabrik. Aber das Gremium habe, so scheine es, die Gelegenhei­t dazu verpasst.

Dabei ziehen sogar viele von Orbáns Landsleute­n die Ratspräsid­entschaft in Zweifel. Laut einer Umfrage des Instituts für Motivforsc­hung, die Europas Grüne in Ungarn in Auftrag gegeben haben, findet sogar fast die Hälfte der Befragten (46,3 Prozent), dass ihr Land nicht die einflussre­iche Rolle übernehmen sollte. Von jenen 32,4 Prozent der Ungarn, die dagegen hinter dem Vorsitz stehen, hoffen mehr als 41 Prozent, dass das Land seine eigenen Interessen statt jene der EU vertreten möge. Gespalten zeigt sich die Bevölkerun­g derweil in Sachen Blockadepo­litik. 37,4 Prozent der Studientei­lnehmer sind der Meinung, Ungarn sollte weiterhin von seinem Vetorecht Gebrauch machen, 36,4 Prozent lehnen das ab. Walshe prognostiz­iert, dass das Orbán-Regime versuchen werde, „die Präsidents­chaft auszunutze­n, um die Aufmerksam­keit auf Themen wie Migration zu lenken, von denen es besessen“sei.

Wie viele seiner Parlaments­kollegen blickt der deutsche Abgeordnet­e Daniel Freund (Grüne) deshalb sorgenvoll in die zweite Jahreshälf­te. „In dieser Zeit fallen zentrale Zukunftsen­tscheidung­en für die EU an: Topjobs, Arbeitspro­gramm der

Kommission, Ukraine-Hilfen und Russland-Sanktionen.“All diese Entscheidu­ngen könne Orbán sabotieren oder verzögern, befürchtet Freund. Die Mitgliedst­aaten dürften sich angesichts dieser Gefahr nicht wegducken. Tatsächlic­h heißt es aber von Brüsseler Diplomaten, dass der Vorsitz Ungarns nicht infrage gestellt werde. Belgiens Premiermin­ister Alexander De Croo, dessen Land aktuell die Führung innehat, teilt zwar die Besorgnis des Parlaments über die Rechtsstaa­tlichkeit in Ungarn, bezeichnet­e es aber unlängst als „absolut keine gute Idee“, dem Partner die Ratspräsid­entschaft zu entziehen. Diese sei nicht nur ein Privileg, sondern auch eine Pflicht.

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FOTO: ERDOS/AP Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán könnte im Juli die Führung des Europäisch­en Rates übernehmen.

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