Perspectives enden ohne große Höhepunkte
An diesem Samstag geht das Festival zu Ende. Die Bilanz der Ausgabe 2024: eher mittelmäßig. Die Organisatoren sind dagegen „ sehr zufrieden“.
Der Saal jubelte, die Truppe auf der Bühne gab bereitwillig Zugaben, nur die Fans der zeitgenössischen Choreografiekunst guckten etwas ratlos. Was war hier los? Am Donnerstag gingen die Perspectives nach Forbach ins Theater, zur Scène nationale Le Carreau, dem bewährten Partner des Festivals und Garant für Innovatives und hohe Qualität. Gleich zweimal hatten die Forbacher Philippe Decouflés „Stéréo“auf die Bühne gehoben, die Karten waren weggegangen wie nichts, gleich zweimal ausverkauft. Denn der Choreograf Decouflé, der mit seiner Olympia-Eröffnungszeremonie 1992 bei den Winterspielen in Albertville bekannt wurde, tourt schon seit 2022 mit seinem neuesten Werk und viel medialer Aufmerksamkeit durch die Lande.
Doch was ist das nun, „Stéréo“? Rockkonzert, Tanzshow, Modenschau, Zirkus, ein Hauch von Las Vegas? Von allem etwas, aber nichts ganz richtig. Dabei verstehen die drei Musiker und drei Tänzerinnen und vier Tänzer auf der Bühne durchaus ihr Handwerk, die Show versprüht sehr viel Energie. Doch man merkt den unbedingten Willen, zu amüsieren und zu unterhalten und bloß nicht zu fordern. Eine „Hymne an den Rock'n Roll“wollte Decouflé schaffen, es nach dem Corona-Lockdown wieder so richtig knallen lassen, entfesselte, enthemmte Lebensfreude feiern.
Die Bühne ist denn auch wie für ein Rockkonzert gestaltet, das einzige Dekor sind Technik- und Pseudo-Techniktürme und fahrbare Musiker-Podeste, die zusätzlich in allen Farben leuchten können. Das hat manchmal etwas von stilisierter nächtlicher Großstadt-Kulisse, vor der die sehr sportiven Tänzer zu jedem neuen Rocksong in neuen Kostümen auflaufen und lächelnd alles geben. Bandleader Arthur Satàn mit den vielen Tattoos lässt seine Gitarre richtig schön vibrieren und jaulen, singt mit passender Reibeisenstimme und Herzblut viel Eigenes oder kreuz und quer durch die Rockgeschichte, mal Beatles, mal Beach Boys, Roxy Music oder auch den 1970er Jahre Ohrwurm „Get ist on“von T-Rex.
Die Tanzgruppe zeigt dazu das ganze Spektrum dessen, was Decouflé wohl unter Rock-Kultur versteht, erst in Netzhemden mit Hosen in Schwarz-Weiß-Look, dann die Frauen in rote oder schwarzer Ganzkörper-Lackleder gepackt und auf Super-Highheels und BallerinenSpitzenschuh hochgebockt, wobei der Gold-Glitzer-Glamour-Anteil an den Kostümen unablässig zunimmt. Sie bewegen sich mal schlangenartig lasziv, dann wieder auf Sneakern vornehmlich elastisch, legen im stehenden Spagat dem Mann die Zehenspitze auf die Stirn oder vergnügen sich im Headbanging.
Tänzer wie Tänzerinnen beeindrucken durch Multitalent, sie können auch singen, die Bassistin auch tanzen. Einige sind auch richtige Schlangenmenschen und Akrobaten, die vorwärts wie rückwärts Bogengänge schlagen. Als Alleskönner besticht Baptiste Allaert, der als freakiges Nummerngirl und Pausenclown beginnt, später auch kurz die Bassgitarre übernimmt und – leider – immer wieder etwas albern peinliche Lebensweisheiten zum Besten geben muss. Bloß nicht alles zu ernst nehmen! Der Techno-RaveStar, der nur noch mit Computern spielt, aber auch der eitle Rockstar, Typ Elvis bis Little Richard und John Travolta kriegen in Parodien ihr Fett ab.
Decouflé erreicht mit „Stéréo“, hier in der 100. Aufführung, durchaus sein Ziel. Die Zuschauer gehen von Anfang an mit, klatschen im Takt und wenn möglich nach jedem Rocktitel. Der Choreograf, ein echter Boomer-Jahrgang, katapultiert mit „Stéréo“nicht nur musikalisch in jene Zeit zurück, die noch ganz
ohne queer, non-binär und gender, von heute aus besehen für manche echter und einfacher wirkte. Das macht diesen Abend so wohlig.
Und doch wirkt das Rock-Feeling hier durchgehend aufgesetzt, nicht authentisch, und das Ganze tänzerisch auch beliebig. Als langjährige Perspectives-Freundin ist frau da gerade auch im Tanz anderes, Besseres gewohnt. Das gilt diesmal auch für das Festival insgesamt: Zu viele Nachwuchskräfte, keine großen und ausgereiften KünstlerPersönlichkeiten wie etwa im Vorjahr Ursina Lardi, kein Spektakel mit Noch-nie-dagewesen-Feeling, keine stilprägenden Gruppen wie Rimini Protokoll.
Ja, wir haben bei diesem Festival über die Jahrzehnte einfach schon viel Großartiges Revue passieren sehen dürfen. Organisatorisch war die Ausgabe jedoch ohne Fehl und Tadel: Das Saarbrücker Team aus, wie man hört, nur insgesamt drei
langjährigen Mitmachern, die es verantwortlich mit vielen Praktikanten hauptverantwortlich zu stemmen hatten, haben dafür gesorgt, dass jede Vorstellung lief, wie sie laufen sollte, und wir Fans 2024 nicht in eine Festivallücke gefallen sind.
Doris Pack (CDU), Chefin der das Festival Perspectives tragenden Stiftung für die deutsch-französische kulturelle Zusammenarbeit ist dagegen „sehr zufrieden“mit dieser Festivalausgabe. „Wir haben fast immer volles Haus gehabt, waren also fast immer ausverkauft“, so lautete am Freitag auf Nachfrage der SZ Packs erste, vorläufige Bilanz. Und das trotz Hochwasserproblemen, die manchen die Anfahrt erschwert oder gar unmöglich gemacht hätten. Dass das Fehlen von Größen, das Zurückgreifen auf altbekannte, schon mehrfach hier aufgetretene Gruppen und auf junge, noch nicht so teure Artisten, auch auf ein gerin
geres Budget als im Vorjahr zurückzuführen sei, verhehlte Pack nicht. „Wir hatten weniger Geld, im vorigen Jahr war Elysée-Jahr, da hatten wir Sonderzuschüsse und es sind Sponsoren weggefallen“, erklärte sie.
Darunter eben auch jene legendäre private Großsponsorin, die die langjährige Leiterin Sylvie Hamard hatte gewinnen können. Die Zukunft des Festivals sieht Pack aber in jeder Hinsicht optimistisch, vor allem auch finanziell. Zum einen habe die designierte, künftige Festivalleiterin Kira Kirsch aus Wien, sich nicht nur die ganze Festivalausgabe angesehen, sondern bereits Kontakte mit Partnern in Lothringen und Luxemburg geknüpft. Zum anderen, so Pack, hätten SPD-Landesregierung und Saarbrücker Stadtverwaltung „eingesehen“, dass ein Festival wie die Perspectives nicht über 17 Jahre mit der gleichen Summe klar kommen könne.