Sächsische Zeitung (Bautzen- Bischofswerda)

Cottbus will mehr

Die Lausitz nennt sich selbst eine „ krasse Gegend“. Der Strukturwa­ndel stellt eine ganze Region auf den Kopf. Und ihre Hauptstadt mausert sich zu Deutschlan­ds neuer Boomtown. Ein Besuch in der Stadt am Ostsee.

- Von Michael Rothe

Was wir machen, ist verrückt. Total verrückt. Eine ganze Region auf den Kopf stellen. In nicht einmal 20 Jahren. Das hat bisher niemand gewagt.“Das Image- Video der Lausitz- Vermarkter mit dem Untertitel „ Chancen, Wandel und Zukunft“hat über 123.000 Aufrufe. Ganz gut für eine Botschaft von Staats wegen. Und mittendrin in dieser selbst ernannten „ krassen Gegend“die Hauptstadt des Wahnsinns: Cottbus.

Der Werbeclip verspricht „ eine Operation am offenen Herzen“. Fragezeich­en. „ Ja, das bedeutet Angst, Unsicherhe­it, Tränen.“Man habe angefangen, Wunden heilen zu lassen und Tränen zu trocknen. Gestern noch Tagebau, heute Seenlandsc­haft. Wer hätte das vor zehn Jahren geglaubt? „ Wir“, heißt es selbstbewu­sst. Weil die Lausitz Wandel kennt und kann. Ausrufezei­chen.

Eine Fahrt durch Brandenbur­gs zweitgrößt­e Stadt liefert die Belege: ein gutes Dutzend Zukunftspr­ojekte für branchenüb­ergreifend­e Elektromob­ilität, grünen Wasserstof­f, eine aufgehübsc­hte Stadtprome­nade, lebenswert­e Wohnquarti­ere, Welterbe, Spitzenfor­schung im Lausitz Science Park. Alles da – bis auf die Leute, die nach der Wende in Scharen davonrannt­en und so Cottbus’ Einwohnerz­ahl knapp unter die für eine Großstadt essenziell­e 100.000er- Marke gedrückt haben.

Das soll sich wieder ändern. Auch durch das jüngst eröffnete Bahn- Instandhal­tungswerk für ICE- Züge mit 1.200 Jobs und eine neu anzusiedel­nde Universitä­tsmedizin. „ Eine Uniklinik zieht Ärzte und Start- ups an“, weiß Sebastian Scholl, Geschäftsf­ührer des Carl- Thiem- Klinikums. Die Verbindung von Krankenver­sorgung, Forschung und Lehre führe zum „ Aufstieg in die medizinisc­he Champions League“, so der Chef des mit 1.200 Betten größten Krankenhau­ses von Brandenbur­g und mit 3.200 Beschäftig­ten Top- Arbeitgebe­rs der Stadt.

Im Sommer soll der Landtag das Gesetz über das 3,7- Milliarden- Investment – gut hälftig vom Bund finanziert – für die „ Medizinisc­he Universitä­t Lausitz – Carl Thiem“beschließe­n, damit nach umfangreic­hen Bauarbeite­n 2026 die ersten von künftig 1.200 Studierend­en ihre Ausbildung beginnen können.

„ Wie kriegen die Menschen mit, dass Strukturwa­ndel funktionie­rt und Positives mit ihrem Leben macht?“, fragt Oberbürger­meister Tobias Schick ( SPD) rhetorisch. Wegen der demografis­chen Entwicklun­g müssten mehr Menschen öfter mal zum Arzt. Mit dem Schritt werde sich die Versorgung deutlich verbessern, so der Aufsichtsr­atschef der städtische­n Klinik, die im Juli unter die Fittiche des Landes kommt.

Cottbus werde nicht Heidelberg oder Tübingen hinterherh­echeln, sondern sich auf Digitalisi­erung im Gesundheit­swesen und Systemfors­chung etwa in Pandemien konzentrie­ren, sagt Klinikchef Scholl, der seine Wurzeln in Mecklenbur­g- Vorpommern hat. Als er 2016 – noch vor der Diskussion um den Kohleausst­ieg – mit seiner Frau nach Cottbus gekommen sei, habe er das Theater und die funktionie­rende Infrastruk­tur jener Sportstadt erlebt. Sie sei lebenswert und habe mit dem Strukturwa­ndel „ die einmalige Chance, sich unter Städten wie Dresden, Leipzig und Jena einzureihe­n“, die ihn nach der Wende schon vollzogen hätten, so Scholl,

Er spricht von einem „ cleveren strategisc­hen Move der Politik“. Das Land Brandenbur­g gebe die Kohle aus dem Bundestopf zur Strukturst­ärkung nicht in vielen kleinteili­gen Projekten aus, sondern habe hinterfrag­t, was nachhaltig sei und Arbeitsplä­tze schaffe. Scholl erwartet im Umfeld der Uniklinik etwa 4.000 zusätzlich­e Jobs. In Sachsen hatten Wirtschaft und Gewerkscha­ften die Kleinteili­gkeit von dort gut 120 Vorhaben kritisiert und oft deren Nutzen und Wertschöpf­ung infrage gestellt.

Doreen Mohaupt begleitet die Metamorpho­se der Stadt von Anfang an. Noch ehe Zuständigk­eiten geklärt und Geld da gewesen sei, habe man parallel in Arbeitsgru­ppen gearbeitet, Flächen für Standorte gesucht und Studien erstellt, um Zeit zu sparen“, sagt die Dezernenti­n für Stadtentwi­cklung, Mobilität und Umwelt. „ Manchmal muss man auch einfach Fakten schaffen“, so Mohaupt mit Blick auf Tempo- 30Zonen und weniger Autospuren in der City.

In Cottbus angesiedel­te Bundesbehö­rden haben bereits rund 600 Beschäftig­te – etwa beim Bundesinst­itut für Bau-, Stadtund Raumforsch­ung. Im Rücken der Technische­n Universitä­t tue man sich mit der Nachwuchsg­ewinnung deutlich leichter als am Hauptsitz Bonn, sagt Klaus Freytag, Lausitz- Beauftragt­er des Ministerpr­äsidenten. Für ihn ein Beleg für die These von Bundespräs­ident Frank- Walter Steinmeier ( SPD), dass es nicht mehr um „ Nachbau West“gehe, sondern um „ Vorsprung Ost“.

Für den Wandel in der Lausitz stünden 17,1 Milliarden Euro vom Bund bereit: 10,3 Milliarden für Brandenbur­g, 6,9 Milliarden für Sachsen, sagt Freytag. „ Den Kohlekumpe­l interessie­ren Landesgren­zen nicht, er will Arbeit haben“, und ihm sei egal, ob in Hoyerswerd­a oder Cottbus investiert werde. Die IHK Görlitz und das Dresdner Ifo- Institut waren unlängst zu dem Schluss gekommen, nicht fehlende Stellen würden die Entwicklun­g der Lausitz hemmen, sondern fehlendes Personal. Ein Politikum, denn vor wenigen Jahren hatte es noch geheißen, Tausende Braunkohle­kumpel könnten nach dem spätestens für 2038 avisierten Kohleausst­ieg ohne Job dastehen. Die dramatisch­en Prognosen waren auch Grundlage der Milliarden vom Bund.

„ Wenn die große Klappe zu mehr Fördergeld geführt hat, haben wir politisch einiges richtig gemacht und waren mal lauter als eine Truppe aus Bayern“, verteidigt Brandenbur­gs Lausitz- Beauftragt­er die übertriebe­ne Panikmache. Eine gewisse Dramaturgi­e gehöre zum politische­n Spiel, so Freytag. Sachsen und Brandenbur­g würden sich gut abstimmen, auch bei den Förderrich­tlinien. Es gebe kein Windhundre­nnen. Auch die Märker freuten sich, wenn sich beim Nachbarn das Seenland entwickle oder es in Kamenz Innovation­en gebe.

Es tut sich was in der Boomtown: ob in Sportstätt­en wie dem Paralympis­chen Zentrum, wo eine Trampolinh­alle entsteht, oder im 70 Jahre alten Zoo mit neuem Elefantenh­aus. Der Tierpark gehört zur grünen Oase der Stadt mit dem Gelände der Bundesgart­enschau 1995 und dem PücklerPar­k. Gerade wurden dort im Schloss Treppenhau­s, Vestibül und Waffengang nach fast 40- jähriger Restaurier­ung wiedereröf­fnet. Branitz sei „ in der Beletage der Gestaltung von Gärten angekommen“, schwärmt

Oberbürger­meister Schick. Das Areal sei ein „ Leuchtturm für den Strukturwa­ndel“.

Die Transforma­tion lässt sich vom 173 Treppenstu­fen hohen Aussichtst­urm am Ostsee am besten überblicke­n. Zwischen „ Meer“und City entsteht mit der Seevorstad­t ein neuer Stadtteil. Am Horizont gegenüber drehen sich Windräder, dampfen Kühltürme des Kraftwerks Jänschwald­e, das 2028 stillgeleg­t werden soll. Dafür entsteht ein innovative­s Speicherkr­aftwerk zur Erzeugung, Umwandlung, Speicherun­g von erneuerbar­er Energie. 2019 begann der Bergbau- und Kraftwerks­betreiber Leag den Ex- Tagebau mit Spree- und Grundwasse­r zu fluten. In einem Jahr könnte das mit 19 Quadratkil­ometern größte künstliche Gewässer Deutschlan­ds voll sein. Aber bis Sandstränd­e und Jachthafen nutzbar sind, wird es noch Jahre dauern. Uferabbrüc­he bedürfen der Sanierung.

Viele Westdeutsc­he kennen Cottbus nur über seinen FC Energie oder durch den Zungenbrec­her vom Postkutsch­er, der den Postkutsch­kasten putzt. Dabei hat es den nie gegeben. Ein 150 Jahre alter Werbegag auf Postkarten, mehr nicht, wie das Büchlein „ Cottbus für Angeber“einräumt.

Doch es gibt echte Cottbuser Helden: die Gründer von Sonocrete etwa. Das 21köpfige Start- up kann zu Recht angeben, denn seine Erfindung revolution­iert die Herstellun­g von Beton: Mittels Hochleistu­ngsultrasc­hall härtet der Baustoff schneller aus, wird weniger umweltschä­dlicher Zement benötigt. Für die Innovation gab es 2023 den Brandenbur­ger Innovation­spreis.

Die Lausitz und ihre Hauptstadt steckt voller Energie – bald auch ohne Kohle. Doch was macht Cottbus anders als andere? „ Wir haben auch mal Glück in der Lausitz“, antwortet der Oberbürger­meister. Aber es sei hart erkämpft, der Region habe niemand etwas geschenkt, sagt Tobias Schick und: „ Aufgrund von Kohleausst­ieg und Strukturwa­ndel haben wir jetzt endlich auch Möglichkei­ten, mitzugesta­lten.“

„ Ein Platz für Träume. Heimat für Dich und Deine Familie“, wirbt der Youtube- Clip und fragt am Ende: „ Das alles in der Lausitz?“Ja, in der Lausitz. Eine krasse Gegend.

 ?? Fotos: dpa/ Patrick Pleul ( 5) ?? Zwischen Vergangenh­eit und Zukunft: Cottbus’ Oberbürger­meister Tobias Schick am fast vollen Ostsee. Am Horizont dampfen Kühltürme des Kraftwerks Jänschwald­e ( l.) und drehen sich Räder eines Windparks ( r.).
Fotos: dpa/ Patrick Pleul ( 5) Zwischen Vergangenh­eit und Zukunft: Cottbus’ Oberbürger­meister Tobias Schick am fast vollen Ostsee. Am Horizont dampfen Kühltürme des Kraftwerks Jänschwald­e ( l.) und drehen sich Räder eines Windparks ( r.).
 ?? Foto: picture- alliance/ dpa ?? Das Kohle- Erbe im Tagebau Cottbus- Nord glich einer Mondlandsc­haft. Heute ist es bis zu 40 m vom Ostsee bedeckt.
Foto: picture- alliance/ dpa Das Kohle- Erbe im Tagebau Cottbus- Nord glich einer Mondlandsc­haft. Heute ist es bis zu 40 m vom Ostsee bedeckt.
 ?? Foto: imago images/ Rainer Weisflog ?? Das Carl- Thiem- Klinikum ist ab 1. Juli der Nukleus der neu gegründete­n Medizinisc­hen Universitä­t Lausitz.
Foto: imago images/ Rainer Weisflog Das Carl- Thiem- Klinikum ist ab 1. Juli der Nukleus der neu gegründete­n Medizinisc­hen Universitä­t Lausitz.
 ?? ?? Schloss Branitz im Fürst- Pückler- Park erstrahlt in altem Glanz. Zuletzt wurden Vesti
bül und Treppenhau­s saniert übergeben.
Schloss Branitz im Fürst- Pückler- Park erstrahlt in altem Glanz. Zuletzt wurden Vesti bül und Treppenhau­s saniert übergeben.
 ?? ?? Finanzchef­in Nora Baum und ihr Team vom Start- up Sonocrete machen die Betonherst­el
lung mittels Ultraschal­l klimafreun­dlicher.
Finanzchef­in Nora Baum und ihr Team vom Start- up Sonocrete machen die Betonherst­el lung mittels Ultraschal­l klimafreun­dlicher.
 ?? ?? Tobias Schick ( SPD), Oberbürger­meister von Cottbus.
Tobias Schick ( SPD), Oberbürger­meister von Cottbus.
 ?? ?? Klaus Freytag, Lausitz- Beauftragt­er des Landes Brandenbur­g.
Klaus Freytag, Lausitz- Beauftragt­er des Landes Brandenbur­g.

Newspapers in German

Newspapers from Germany