Sächsische Zeitung (Bautzen- Bischofswerda)
Das himbeerrote Leuchten
Wir leben im Ungewissen, meint die Leipziger Dichterin Angela Krauß und träumt von der Errichtung eines Weltgebäudes.
Träume sind die schönsten Rätsel unserer Existenz, schreibt die vielfach ausgezeichnete Autorin Angela Krauß. Nachtgeschöpfe, die durch den Schlaf stromern, ihn stören oder erhellen. Einmal erscheint ihr im Schlaf eine Fee und gibt einen Wunsch frei. „Nicht drei?“, fragt die Dichterin, groß geworden mit Märchen. „Zu spät“, antwortet knapp die Fee. Sie spielt auf das Alter der Schlafenden an. Auch mit 74 hat Angela Krauß noch Träume – und was für welche! Wo andere mit dem Altern hadern, empfindet sie das Dasein „unnachahmlicher, je länger es dauert: exaltiert und erlesen, von stiller Ekstase“.
1984 erschien ihr Debüt „Das Vergnügen“. 40 Jahre später legt sie bei Suhrkamp ihr 15. Buch vor. Mit dem längsten Titel aller ihrer Arbeiten: „Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen.“Sie lacht gern und liebt das Spielerische. Ihr wird der Langtitel ein stilles Vergnügen bereitet haben. So viele Wörter, und das ausgerechnet bei ihr, die wie keine Zweite die Kunst der Verdichtung und Aussparung versteht. Eine moderne Erzählerin, die hin und wieder zur alten Schreibweise neigt und dem formenreichen „ß“eine Girlande dreht. Das ist sie ihrem Namen schuldig.
Ihr neues Buch setzt fort, was sie schon in früheren Werken antrieb. Die Suche nach dem „Wesenskern des Menschen“. Auf dieser Suche nach der Wiege des Menschseins befragt sie den Einzelnen und sich selbst. Sie kehrt ihr Innerstes nach Außen. „Ich muß mein Herz üben“, dichtet sie. Herz und Hirn übt sie für die Prüfungen der Gesellschaft und des Schreibens. Früher glaubte sie, durch das Wort festhalten zu können, was sie erlebt hatte. Neuerdings ist sie da nicht mehr sicher: Kaum hat sie ein Erlebnis mit Worten eingefangen, nimmt „es auch schon eine andere Gestalt“an und entwischt. Die Suche nach dem genauen Begriff kann „zur Sucht werden“, weiß die Leipzigerin. Letztlich ist die Poesie nur der anmutigste Teil der Wirklichkeit. Nichts ist größer als das Leben, nichts beglückender als die Liebe. „Sollte man sich nicht im nächsten Menschen restlos verlieren?“
Aber Achtung: Schließlich seien alle Liebesverhältnisse „von wechselnder Einseitigkeit“. Poesie und Prosa von Angela Krauß zeigen in lichter, formbewusster und präziser Sprache die Schönheit und Zerbrechlichkeit des Lebens. Eine reiche Sprache, „die der Seele ihren Raum läßt“. Wie schon im Buch „Der Strom“weht auch durch die jüngsten Zeilen ein sanfter Wind der Hoffnung: „Ich glaube immer noch an eine Art Vorwärts, an das Schöne.“
Angela Krauß hat das Ganze im Blick und stößt die Fenster zur Welt weit auf. Schon länger lebt sie in der „Gewissheit, Zeuge einer großen Daseinsverwandlung zu sein“. Diese habe sich angekündigt „mit einem weltweiten Innehalten“. Die Veränderung des Lebens auf unserem blauen Planeten ist das Thema des neuen Bandes. „Etwas war im Gange.“Angst und Argwohn „verdünnten die Luft zum Atmen“: Steht die globale Existenz durch Krieg, Klimawandel und Krankheiten auf der Kippe? Antworten kann die Kunst nicht geben, nur einer Hoffnung Flügel verleihen. Unter den Formen der Daseinsverwandlung hält Krauß zwei für möglich: „plötzliches Unglück
und plötzliches Glück. Oder könnte es sich auch um einen Traum handeln?“Das Buch ist kunstvoll komponiert. Die Dichterin kehrt zurück in Räume, Mansarden, Zimmer, Häuser und Sternwarten ihres Lebens. In der Erinnerung ist der Geist frei. Mit Abstand erfasst er Zusammenhänge besser, bringt sie auf den Punkt. Von Begegnungen mit Menschen, die ihr nah waren, wird einfühlsam erzählt.
Berührend spricht die Autorin von ihrer hochbetagten Mutter, die sie im Dresdner Pflegeheim besuchte und mit der spöttischen Frage empfangen wurde: „Was hast du zu beichten?“Zärtlich berichtet sie von ihrem jüngeren Bruder, mit dem sie im Doppelstockbett aufwuchs und immer zu zweit in den dunklen Keller ging, um Kartoffeln zu holen. Wehmütig erinnert sie an ihre erzgebirgische Großmutter, deren Klöße nach alter Tradition unrund geformt waren und wunderbar schmeckten. Den geliebten und schweigsamen Vater kann die Tochter nicht vergessen, der Polizist im Uranbergwerk der Wismut war und den Freitod wählte, als sie 18 war. Mit der Erzählung „Der Dienst“hatte sie ihm ein bewegendes Denkmal gesetzt.
Neben der Familie tauchen andere Personen auf. So der geschickte Ofensetzer, der den fröhlichen Kindern in drei Tagen einen elfenbeinweißen Kachelofen „mit himbeerroten Fugen“ins Zimmer zauberte. So die fremde Frau, die wegen ihrer schwingenden Bewegungen Tänzerin genannt wird. Die Frau hatte die Platane im Garten bewundert, sich dabei elegant im Kreis gedreht. Angela Krauß sprach sie deshalb an. „Die harmlosesten Bemerkungen und die Pausen an der richtigen Stelle, das ist es manchmal, was einen wildfremden Menschen von einem Moment zum anderen zum Vertrauten machen kann.“
Dieses schmale, gewichtige Buch ist eine Liebeserklärung an unser wildes, verletzliches und verzanktes „spielzeugkleines Leben“. Trotz alledem. Es lädt zum Nachdenken, zum Freundlichsein ein. Und was ist mit der Fee, erfüllt sie den Wunsch? Wird das Weltgebäude, in dem wir alle Platz finden wollen, errichtet werden? Im Traum von Angela Krauß entsteht es. Lebt der Traum bald?
Angela Krauß: Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen. Suhrkamp, 112 S., 20 ¤