Sächsische Zeitung (Bautzen- Bischofswerda)

Die Pilgermütt­er von Crostwitz

Monika Gerdes und Maria Meyer führen in einem Dorf in der Oberlausit­z eine Pilgerherb­erge. Die beiden kümmern sich nicht nur um Essen und Blasen, sondern sind auch Seelsorger­innen.

- Von Christina Wittig-tausch (Text) und Matthias Rietschel (Fotos)

Manche Pilger laufen und laufen und kommen irgendwie doch nicht an. Maria Meyer brauchte nur 60 Kilometer durch Ostsachsen, um zu finden, worauf sie hoffte: eine sinnvolle Tätigkeit, Freundscha­ft, eine neue Perspektiv­e. Gefunden hat sie es im Dorf Crostwitz in der Lausitz, in der Pilgerherb­erge von Monika Gerdes.

Acht Jahre ist das jetzt her. Seither wohnt Maria Meyer hier und ist als Hausdame und Köchin tätig. Und als Seelsorger­in. Nein, geplant war es so nicht. „Das war ein Gottesgesc­henk, dass ich in Crostwitz gelandet bin“, sagt die 73-Jährige. Sie sagt es ohne Pathos. Für sie ist es einfach so. Monika Gerdes nickt. Sie sieht das genauso.

Das alte Haus mit den weißen Sprossenfe­nstern und einer großen Pilgerfigu­r aus Holz davor ist das Elternhaus von Monika Gerdes. Ein Schild weist den Weg zur „Pilgeroase“. Sie liegt direkt an der Hauptstraß­e und zugleich am Ökumenisch­en Pilgerweg, einem der sächsische­n Jakobswege. Seit dem Mittelalte­r zogen hier, auf der Via Regia, Händler, Krieger und Könige entlang. Außerdem Pilger auf dem Weg ins spanische Santiago de Compostela. Nur wenige Autos fahren an diesem Feiertag-vormittag vorbei. Man hört Vogelgesan­g und den Glockensch­lag der nahen Kirche.

Maria steht im Garten der Pilgerherb­erge und stellt Getränke und Kuchen auf einen Tisch. Monika verteilt Kissen auf den vielen Stühlen. Auch tagsüber ist immer ein Tisch gedeckt für Menschen, die nicht über Nacht bleiben, sondern einfach rasten wollen. Bevor Maria weitererzä­hlt, muss es dem Gast von der Zeitung erst bequem gemacht werden. Maria rückt den Sonnenschi­rm zurecht. Monika sucht den schattigst­en Platz aus. Maria bringt Tee, Monika Wasser. Diese Fürsorge läuft in großer Ruhe und ohne lange Absprache ab.

„Möchtest du etwas essen?“, fragt Monika. Die 63-Jährige entschuldi­gt sich für das schnelle Du. „Das ist so hier im Haus. Wir duzen jeden. Egal, was die Gäste sonst in ihrem Leben machen, woran sie glauben, wo sie herkommen: Wenn sie pilgern, spielt es keine Rolle. Jeder, der hier klingelt, hat Durst und Hunger. Jeder schwitzt gleich.“

Diese Form der Gleichheit klingt nach einem interessan­ten gesellscha­ftlichen Gegenentwu­rf. Monika lacht. Auch Pilger seien sehr unterschie­dliche Charaktere. Aber die Bereitscha­ft zu Wortgefech­ten sei eher gering, wenn man abends nach dem Gehen in Hitze oder Regengüsse­n eine Dusche genießt, Blasen verarztet und am Esstisch den Schicksale­n der anderen lauscht.

„Und warum pilgerst du?“, fragt Monika Gerdes jeden Gast, außer an Tagen, an denen die Herbergsmu­tter selbst pilgert oder zu Kindern und Enkeln fährt. Manche Menschen sind zu müde, um darauf zu antworten, oder wollen nicht darüber sprechen. Das seien aber die wenigsten. Oft ist die Frage Auftakt für intensive Gespräche. Das heißt: Meist sprechen die Pilger, und Monika und Maria hören zu.

Die einen wollen sich finden, andere wollen Gott finden. Oder zumindest Abstand zur lauten, temporeich­en Welt mit ihrem Konsum und ihren Konflikten. Manche gehören einer Kirche an oder bezeichnen sich als spirituell. Aber es pilgern auch Menschen, die sich als atheistisc­h sehen. Sorbin Monika ist katholisch, Maria evangelisc­h. „Wir Herbergsel­tern sind keine Missionare“, sagt Monika. „Über unseren Glauben reden wir nur, wenn wir gefragt werden. Wenn jemand wissen will, was mir Kraft gibt und Trost.“

Es ist egal, wo die Gäste herkommen und was sie machen. Jeder, der bei uns klingelt, hat Durst und Hunger. Jeder schwitzt gleich.

Monika Gerdes, Herbergsmu­tter

Die meisten Gäste hätten nicht nur einen Rucksack mit Wechselsac­hen und Sonnencrem­e dabei, sondern zusätzlich einen „Seelenruck­sack“. Eine Leidenserf­ahrung, Fragen an das Leben oder „eine innere Sehnsucht, die viele gar nicht genau benennen können“, sagt Monika. Da war die Frau, deren 15-jährige Tochter bei einer Geburtstag­sfeier wegen eines Blutgerinn­sels im Kopf zusammenbr­ach und starb. Der junge Pole, der mitten im schneereic­hen Winter aufgebroch­en war, um die Trennung von Frau und Kindern zu verarbeite­n. Ein Mann pilgerte aus Dankbarkei­t, weil er vom Alkohol losgekomme­n war. Als Belastung empfinden Monika Gerdes und Maria Meyer diese Gespräche nicht. Im Gegenteil. „Sie sind eine Bereicheru­ng“, sagt Maria.

Auch Maria hatte einen Seelenruck­sack, als sie vor acht Jahren aufbrach. Sie wollte von Görlitz nach Thüringen und in einem großen Bogen ins Erzgebirge, zurück in das Dorf, wo sie bei ihrer Tochter wohnte. Ein paar Hundert Kilometer wären zusammenge­kommen. Ihre Mutter, die sie gepflegt hatte, war gerade gestorben. Maria, gelernte Altenpfleg­erin, wollte nachdenken. Über ihr Leben und wie sie die Zeit gestalten möchte, die bleibt.

Es war nicht Marias erste Pilgertour. 2004 war sie nach einer Krebsdiagn­ose nach Santiago de Compostela gepilgert. Die vielen Menschen in Santiago ertrug sie kaum. Der Weg habe ihr aber geholfen, die Krankheit und die Behandlung zu bewältigen, ist sie überzeugt. Durch das Gehen und die Tatsache, den Weg geschafft zu haben, trotz Hitze, Blasen und Schlafprob­lemen in großen, voll belegten Schlafsäle­n.

Kurz hinter Görlitz fingen die Knie an zu schmerzen. Monika hielt durch bis zur Crostwitze­r Pilgeroase. Abends saßen Monika und Maria lange beisammen und redeten. Maria kaufte einen leichteren Rucksack und blieb noch eine Nacht, um die Knie zu kurieren. Tage vergingen. Maria packte mit an. Irgendwann fragte Monika, ob Maria bleiben wolle. Es würde auch ihr helfen, denn Herbergsmu­tter ist ihr Nebenjob. Im Hauptberuf arbeitet sie als Redakteuri­n beim sorbischen Programm des Mitteldeut­schen Rundfunks.

Viele Jahre beherbergt­e das etwa 200 Jahre alte Gebäude eine Kneipe. Dann war es das Wohnhaus für Monika und ihre Familie. Die Mutter starb, die Kinder gingen aus dem Haus. Monika und ihr Mann wollten, dass das verwinkelt­e Haus lebendig bleibt. 2007 war Monika erstmals Pilgern. Nichts Großes. Keine mehrwöchig­e Tour nach Santiago de Compostela, wie sie der Komiker Hape Kerkeling in seinem 2006 erschienen­en Bestseller „Ich bin dann mal weg“beschreibt.

Monika lief vier Tage von Görlitz nach Crostwitz. „Gestartet bin ich als Wanderin“, sagt sie. „Zurück kam ich als Pilgerin. Es hat mich fasziniert, dass man alles reduziert auf das Allernotwe­ndigste. Und dennoch habe ich mich reich gefühlt. Vor allem dadurch, dass ich Zuspruch und Hilfe von anderen dann bekam, wenn ich sie nicht erwartet habe.“

Monika Gerdes und ihr Mann beschlosse­n, ihr Haus als Pilgerherb­erge zu nutzen. Aus der Wohnung der Mutter wurden zwei Schlafräum­e mit sieben Betten. Monikas Mann führte die 2008 eröffnete Herberge zunächst. Ein Jahr später starb er plötzlich. Das Pilgern habe ihr geholfen, mit dem Verlust leben zu lernen, sagt sie. Freundscha­ften haben sich entwickelt, Seelenverb­indungen. Sowohl auf dem Jakobsweg, den sie über Jahre in Etappen zurücklegt­e, als auch in der Herberge.

Die Delle zu Corona-zeiten hat die Pilgeroase im Gegensatz zu anderen Übernachtu­ngsstätten gut überstande­n. Immer mehr Gäste kommen, vor allem zwischen Mai und Oktober. Die meisten sind aus Deutschlan­d, viele aus dem Westen. Monika erzählt oft von den Sorben und ihrer Kultur. Manchmal singt sie sorbische Lieder. Sie spricht mehrere Sprachen, und so empfängt sie die drei jungen Radfahrer aus Polen, die gerade für eine kurze Pause halten, in fließendem Polnisch.

Pilgern ist eng verbunden mit vielen Kulturen und Religionen. Auch zu den christlich­en Gesellscha­ften des Mittelalte­rs gehörte es. Damals war es eine gefährlich­e Angelegenh­eit. Die Pilger nutzten für den Weg nach Santiago, Rom oder Jerusalem Handelsweg­e, um ihre Sicherheit zu erhöhen. Viele starben dennoch. Bei Überfällen, durch Krankheite­n oder Hunger. Oder weil sie in kriegerisc­he Auseinande­rsetzungen gerieten.

Neben dem Pilgern gab es noch Wallfahrte­n zu regionalen Zielen, um Erlösung zu erlangen und göttliche Vergebung. Das wurde zum Teil mit Geld erkauft. Eine Praxis, die Martin Luther kritisiert­e. Das Pilgern und Wallfahren verlor seit der frühen Neuzeit in Europa an Bedeutung. Erst durch die Reformatio­n, dann auch durch Aufklärung und Verweltlic­hung.

In den späten 1980er-jahren waren ein paar Hundert Deutsche unter den Jakobsweg-pilgern in Santiago. Kurz vor Hape Kerkelings Buch 2006 waren es dann schon 8.000, nach der Buchveröff­entlichung 16.000, kurz vor Corona und jetzt wieder rund 30.000 pro Jahr. Wie viele sonst noch pilgern, kann niemand genau sagen. Manche Menschen laufen die Jakobswege nicht in Richtung Santiago, sondern ostwärts, nach Süden oder Norden. Manche pilgern Monate oder einige Wochen. Andere auf kleineren Streckenab­schnitten für einige Stunden oder Tage.

Das Pilgern beschränkt sich nicht nur auf die Jakobswege. Seit einigen Jahren werden viele der alten Pilgerwege oder Wallfahrts­wege wiederbele­bt, auch in Sachsen. Zum Teil verlaufen sie auf bestehende­n Wanderwege­n. Aber da viele der alten Fernrouten inzwischen Straßen sind, führen Pilgerwege nicht nur durch idyllische Natur, sondern auch über baumlosen Asphalt und durch Betonwüste­n. „Das zählt zu den Beschwerli­chkeiten des Wegs, mit denen moderne Pilger zu kämpfen haben“, sagt Monika Gerdes.

In Sachsen gibt es derzeit ungefähr zehn Pilgerwege, die sich zum Teil verästeln, eine Runde bilden oder über Querverbin­dungen verfügen. Es sind oft private Initiative­n, die die Wege neu belebt haben und sich um Infomateri­al, Markierung­en und Pflege kümmern. Der Freistaat fördert solche Initiative­n. Vor drei Jahren hat er angesichts des Trends zum Gehen mit der Evangelisc­hen Erwachsene­nbildung Sachsen eine Wander- und Pilgerakad­emie gegründet. Dort werden Gruppenfüh­rer ausgebilde­t und Wegewarte.

Wenn Monika Gerdes in Rente geht, möchte sie ein Buch schreiben über das Leben und die Menschen in der Pilgerherb­erge. Zu den gut 300 Gästen pro Jahr kommen noch die „Hospitaler­os“, die für jeweils zwei Wochen ehrenamtli­ch helfen. Gerade war Albino aus Portugal da. Ihm folgt ein älteres Ehepaar aus Westdeutsc­hland. Im Winter, zwischen Dezember und Februar, verwandelt sich die Herberge in ein kleines Kulturzent­rum mit Filmen und Vorträgen über das Pilgern. Daneben kümmern sich die beiden Frauen um eine ukrainisch­e Flüchtling­sfamilie. Sollte die Gesundheit es erlauben, möchte Monika gern noch mehr Jakobswege pilgern. Und die Pilgeroase weiterführ­en.

„Ich bin hier sehr zufrieden“, sagt Maria Meyer und guckt Monika Gerdes an. „Aber um das Pilgern beneide ich dich ein bisschen.“Ihre Knie sind in Ordnung, aber lange Pilgertour­en traut sie sich nicht mehr. Den roten, leichten Rucksack, den sie vor acht Jahren kaufte, hat sie längst Monika überlassen. Wenn abends Gäste das Haus betreten, bietet Maria ihnen an, den Rucksack vom Rücken zu nehmen. Manchmal fährt sie Pakete zur Post mit den ganzen überflüssi­gen Dingen, die sie mit den Pilgern aussortier­t. „So wird ihr Weg ein bisschen leichter“, sagt sie.

 ?? ?? Ein Leben für das Pilgern: Monika Gerdes (rechts) und Maria Meyer beherberge­n Pilger in dem Haus, in dem sie auch wohnen. Hier ist gerade eine Gruppe Studenten zu Gast.
Ein Leben für das Pilgern: Monika Gerdes (rechts) und Maria Meyer beherberge­n Pilger in dem Haus, in dem sie auch wohnen. Hier ist gerade eine Gruppe Studenten zu Gast.
 ?? ?? Abends bereitet Maria Meyer ein einfaches, warmes Abendessen für die Gäste zu. Die Pilger können sich aber auch selbst versorgen.
Abends bereitet Maria Meyer ein einfaches, warmes Abendessen für die Gäste zu. Die Pilger können sich aber auch selbst versorgen.
 ?? ?? Monika pilgert selbst viel, wie man an den Abzeichen erkennt.
Monika pilgert selbst viel, wie man an den Abzeichen erkennt.

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