Sächsische Zeitung (Dippoldiswalde)
Die Erfindung des Rote-Bete-Schinkens
Eine Tharandter Fleischerdynastie geht neue Wege, manchmal ganz ohne Fleisch. Dafür wurde die Firma jetzt als Tourismusheld geehrt.
Fleisch ist sein Gemüse? Wenn Peer Zetsche in Tharandts alter Fleischerei Rüger mit Brotscheiben und einem Teller frisch aufgeschnittenen Schinkens zum Kosten einlädt, ist der Wahlspruch der Wurstesser ausnahmsweise ernst gemeint. Sein Fleisch ist wirklich Gemüse. Was wie Schinken aussieht, sich wie Schinken anfühlt und, jedenfalls ziemlich nach Schinken schmeckt, ist eine Rote Rübe.
Seit Generationen macht man sich in Tharandt an der Roßmäßlerstraße Ecke Freiberger „eine Rübe“ums Fleisch. Der Betrieb war zeitweise sogar als Hoffleischerei geadelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm Manfred Rüger den Betrieb, in dem er zuvor Lehrjunge gewesen war, und begründete eine Familientradition. Heute führen die Enkel das Geschäft, das neuerdings wieder einen Titel führt: sächsischer Tourismusheld.
Einer von 73 Helden in Sachsen
Das Prädikat wird jährlich von der Tourismusministerin, vom Landestourismusverband und von weiteren Juroren an besonders gastfreundliche und innovative Akteure der Branche verliehen. Ende November wurden die Titelträger für 2023 verkündet. Sachsen hat demnach 73 Tourismushelden, ein gutes Dutzend davon arbeitet in der Region Osterzgebirge und Sächsische Schweiz. Das grüne Heldenschild steht nun auch in der alten Rügerschen Fleischerei auf dem Tresen. Das Ladengeschäft gibt es zwar mittlerweile nicht mehr. Dafür aber die Tharandter Spezialitätenmanufaktur. Die Firma betreibt am Standort das Bistro „Hauswirtschaft“, außerdem das Café Bahnwärterhäuschen am Forst-Campus, richtet Caterings aus und stellt - das ist die hauptsächliche Spezialität – luftgetrocknete Schinken her.
Entscheidung für Familientradition
André Borgwardt, 43, einer der Rüger-Enkel, gelernter Koch und Projektentwickler in der Manufaktur, sieht den Preis als Bestätigung dessen, was sie hier seit zehn Jahren machen, nämlich, so sagt er, sich für das Umfeld engagieren, die Qualitäten der Gegend herausstellen und sie vermarkten. „Das scheint uns ganz gut gelungen zu sein.“
André und seine Schwester Annett hatten sich entscheiden müssen, als die Frage aufkam, wie es mit dem elterlichen Laden weitergehen sollte: Zumachen oder selbst ins Fleischerhandwerk einsteigen? Die Entscheidung fiel zugunsten der Familientradition. Doch musste man eine Lücke finden, um zwischen den Großfleischern zu überleben. Sie liegt, da war sich André Borgwardt sicher, vor der Haustür.
Und daran glaubt er bis heute. Der ländliche Raum, sagt er, ist ein Chancenraum, in dem es, geschäftlich betrachtet, kooperativer zugeht, wo man weniger auf puren Gewinn aus ist als in den Ballungsräumen der Städte. Und dieser Chancenraum wächst, findet er. Es gibt viele Einzelkämpfer, viele Kreative. „Wenn man die bündelt, kann man etwas Großes erschaffen.“
Die Firma achtet darauf, lokale Wertschöpfung zu betreiben. Seit André Borgwardt die Idee hatte, handwerkliche Schinkenproduktion nach Art des Mittelmeers am Tharandter Wald aufzuziehen, suchte und fand er Leute in der Region, die ihm das passende Fleisch lieferten, Kleinbauern mit großen Herzen für ihre Tiere, deren Namen kaum einer kennt, und die Turopolje, Mangalica oder Pietrain heißen.
Das Fleisch dieser alten Schweinerassen, aber auch der Charolais-Rinder, die sie beziehen, verarbeiten die Borgwardts nach ihrer 360-Grad-Manier, sprich: Alles wird genutzt. Insbesondere bei den Rindern, die ein Schlachtgewicht von 400 Kilo oder auch mehr besitzen, eine Herausforderung. Sie anzunehmen, ist ein großer Catering-Auftrag der beste Anlass.
Was das betrifft, gibt es keinen Mangel an Gelegenheit. André Borgwardt spricht von einer wahren Flut von Anfragen. Gastrobetriebe seien weggebrochen. Doch der Kundenstamm dieser Betriebe sei geblieben und suche nun neue Anbieter. Somit steige der Druck auf die verbliebenen Firmen. „Wir müssen Werkzeuge finden, wie wir dieser Anfragenflut Herr werden.“
Rezeptur ist Betriebsgeheimnis
Das Werkzeug der Manufaktur: eine mobile Außenküche. Ausgediente Palettenmöbel haben die Tharandter auf Rollen montiert und darin die Küchengeräte eingebaut - Kochplatten, Smoker, Holzkohlegrill. Verschiedenartig geformte Zwischenstücke bewirken, dass sich die Küche an nahezu jeden Ort anpassen kann. Voll aufgebaut misst die Zeile beinahe fünfzehn Meter und braucht zum Gutteil nicht mal Strom, um Essen zuzubereiten.
Mit der Palettenküche hat die Manufaktur bereits einige Events bestanden, darunter Firmenfeiern mit vierhundert oder fünfhundert Leuten. Fürs kommende Jahr laufen die Buchungen gut. Gastro-Krise hin oder her, für Borgwardt ist das Glas halb voll. Wer als Gastrobetrieb am Markt überdauert habe, gehöre zur Quintessenz. Und die ziehe eben auch gutes Personal an, Leute mit spezieller Motivation, sagt er. „Oder Passion.“
Zu diesen Passionierten gehört Peer Zetsche. Der gebürtige Dresdner, der in Glashütte groß wurde und jetzt in Mohorn lebt, war vierzehn Jahre Küchenchef im Premium-Lokal Julius Kost in Grumbach. Die Lust auf Veränderung und die langjährige Bekanntschaft mit René Borgwardt brachten ihn im Frühling dieses Jahres zur Spezialitätenmanufaktur.
Veganer Schinken aus Roter Rübe
Peer Zetsches Philosophie: Handwerk machen. Aber nicht jedem Trend hinterherlaufen. „Ich will Dinge machen, die du nicht überall findest.“Inspiriert von der Schinkenbegeisterung seines neuen Arbeitgebers und der eigenen weitgehend fleischlosen Ernährung ging er ans Experimentieren: Ist es möglich, einen handwerklich gefertigten Schinken herzustellen, der komplett vegan ist?
Es ist möglich, sagt er. Und zwar ohne die üblichen Fleischersatzstoffe. Peer Zetsche ist es gelungen, ganze Gemüsestücke in ein verblüffend schinkenähnliches Lebensmittel zu verwandeln, durch die uralte Methode der Fermentation. Dabei geht es um die mikrobielle Umwandlung organischer Stoffe, etwa durch Pilze.
Aktuell entstehen vegane Schinken aus Roter Rübe, aus Steckrübe und aus Karotte. Der Prozess ähnelt dem der herkömmlichen Schinkenproduktion. Allerdings wird beim Fermentieren des Gemüses ein spezieller Schimmelpilz eingesetzt. Wie genau das funktioniert, ist Betriebsgeheimnis. Da er bislang kein ähnliches Produkt finden konnte, will Peer Zetsche seine Idee nicht vorschnell aus er Hand geben, sie noch weiter reifen lassen. Eins weiß er schon jetzt: „Die Ergebnisse sind toll.“