Sächsische Zeitung (Dippoldiswalde)
Majestät Mehlbeere: Wie man Deutschlands Baumkönigin wird
Wegen des Klimawandels könnte der Jahresbaum 2024 groß rauskommen. Johanna Hinnerichs aus Tharandt hilft als Mehlbeeren-Botschafterin mit.
Diese Frau hat was am Hut mit Bäumen, das sieht man gleich. Denn der Hut auf ihrer blonden Mähne wurde aus massivem Holz gedrechselt. Johanna Hinnerichs ist die Deutsche Baumkönigin. Dass ihre Krone zwar augenfällig doch ohne viel Protz daher kommt, findet sie ganz in Ordnung. „Ich mache da keinen großen Wind drum“, sagt sie, „dass ich das jetzt bin.“
Die Baumkönigin hat Prüfungsstress. Bis spät nachts wurde gepaukt für den Vortrag beim Professor. Es ging um Schlupfwespen, und wie sie als Feinde der Borkenkäfer den Wald schützen. Dieses Jahr will Johanna Hinnerichs ihren Master in der Tasche haben. Dann will sie selbst dem Wald helfen, am liebsten im klassischen Forstbereich, „wo man gern und viel draußen ist“.
Draußen sein mochte sie schon immer. Johanna Hinnerichs stammt aus dem Fläming, Westbrandenburg. Der Vater arbeitete im Wald. Förster und Jäger zählten zum Bekanntenkreis. Daraus erwuchs wohl ihre eigene Naturverbundenheit. 2018 kam sie nach Tharandt, um Forstwissenschaften zu studieren. Die Entscheidung hat gepasst, sagt sie. „Ich bin damit ganz glücklich.“
Johanna Hinnerichs will den Wald nicht nur entwickeln helfen. Sie will auch für ihn Reklame machen. Zurzeit erwirbt sie ihre Lizenz als Waldpädagogin. Mit Kindern ist sie besonders gern unterwegs. Die kommen ihr manchmal wie die besseren Förster vor, sagt sie. „Die entdecken Dinge, die Erwachsene übersehen.“
Öffentlichkeitsaffin wie sie ist, hat Johanna Hinnerichs jenen Aushang im Foyer der Tharandter Mensa eben nicht übersehen, der Bewerber für das Ehrenamt der Baumkönigin suchte. Kurzerhand schrieb sie hin und bekam den Job. Am 27. Oktober 2023, dem Tag der Ausrufung des Baums des Jahres 2024, übernahm sie in Berlin den hölzernen Hut.
Die Baumkönigin ist nicht zu verwechseln mit den Waldköniginnen, die viele Regionen Deutschlands, auch Sachsen und selbst der Tharandter Wald schon haben. Die Deutsche Baumkönigin wird von der Baum-des-Jahres-Stiftung bestimmt und kümmert sich nur um einen Baum, nämlich den, der den Titel als Jahresbaum trägt.
In dieser Eigenschaft hat Johanna Hinnerichs schon einige Termine bewältigt. Der Januar war ziemlich voll. Interviews, Podcasts, Aufnahmen fürs Fernsehen. Bei der Grünen Woche war sie auch. Viele weitere Termine werden folgen, sicherlich auch viele Pflanzaktionen für den Jahresbaum: die Mehlbeere.
Forstlich ist der eher kleine Baum bislang ohne Bedeutung. Doch der Klimawandel könnte ihn groß machen. Weil er heiße, trockene Freiflächen verträgt, gilt er als Zukunftsbaum, insbesondere für die Stadt. Johanna Hinnerichs hat gleich zur Amtseinführung eine Mehlbeere mitten in die Asphaltwüste von Berlin-Mitte gepflanzt. Sie vertraut auf das Durchhaltevermögen ihres Jahresbaums, und auf die eine oder andere Kanne Wasser vom Grünflächenamt. „Die Chancen stehen ganz gut.“Gute Chancen für die Mehlbeere – die sieht auch der einstige Botaniklehrer der Baumkönigin. Andreas Roloff, 68, jetzt Seniorprofessor für Baumbiologie, freut sich über die Wahl. Die Mehlbeere könne sich dank ihrer speziellen Eigenschaften selbst an den Straßenrändern der Städte, also an den widrigsten Orten, behaupten. „Das das, was wir brauchen.“
Andreas Roloff zählt noch immer zu Deutschlands profiliertesten Baumkennern. Seit Anfang der 1990er stimmt er bei den Jahresbaumwahlen mit ab. Die Mehlbeere sei schon zweimal in der engeren Wahl gewesen, sagt er. Zuletzt unterlag sie knapp, mit einer Stimme weniger, der Moorbirke.
Einmal die Woche findet man den Seniorprofessor an seinem Schreibtisch im Tharandter Forstbotanischen Garten. Fast dreißig Jahre hat Andreas Roloff die Gehölzsammlung geleitet. Selbstredend weiß er den Weg zu einem schönen Exemplar der Mehlbeere. Der Baum liebt es, zu hybridisieren. Über 150 Arten und Unterarten sind im Forstgarten anzutreffen. Sorbus ist genau aria aber, die Echte Mehlbeere, gibt es bloß viermal.
Wenige Schritte sind es von der Gartenpforte bis zu der Seltenheit. Schritte, die kaum ein Besucher geht, denn der Ort liegt verschwiegen am Rand des Eichenquartiers, eine „Kuschelecke“, wie der Professor dazu sagt. Für die Mehlbeere offenbar genau richtig. Der Baum, gepflanzt wohl um 1960, hat gleich fünf Stämme gebildet, deren höchster schätzungsweise sechzehn Meter misst. Der Stamm hat gut einen Meter Umfang. Die Deutsche Dendrologische Gesellschaft führt den Baum auf der Liste der dicksten deutschen Mehlbeeren an Position 14.
Die Echten Mehlbeeren kommen in Deutschland in der Mitte und im Süden vor. In Ostdeutschland gibt es sie, abgesehen von der Jenaer Gegend, von Natur aus gar nicht. Als Stadt- und Parkbaum wurde die Mehlbeere jedoch hin und wieder auch hier genutzt. In Dresden-Johannstadt steht sogar die deutsche Nummer 3 der Mehlbeeren-Champions mit 2,20 Metern Stammumfang. Der dickste Baum hat über drei Meter und wächst in Heidelberg.
Die Mehlbeere heißt volkstümlich auch Silberbaum, weil ihre Blattunterseiten grausilbern glänzen. Der Effekt wird von einem Haarfilz erzeugt, der die Verdunstung an den Blättern hemmt. Das ist einer der
Gründe für die erstaunliche Trockenresistenz der Baumart, aber auch ein ästhetischer Mehrwert, der die Mehlbeere, wie der Professor findet, als Stadt- und als Hausbaum empfiehlt, neben den knallroten Früchtchen und der flammenden Herbstfärbung. „Man hat mehrmals im Jahr schöne Highlights.“
Die Mehlbeere ist eine ganz Stille, die ihre kleinen Fleckchen Sonne sucht und findet.
Raus aus dem Nischendasein
Roloff denkt, dass die Mehlbeere, wie andere unterschätzte Kleinbäume auch, verstärkt aus ihrer Nische herauswachsen wird. Und das nicht nur in der Stadt. Sie kann auch im Wald gedeihen, sofern es genug Licht gibt. Und das gibt es wegen der Dürreschäden immer öfter. Nur fehlen hierzulande bislang noch die Altbäume, deren Samen, etwa durch Vögel, verteilt werden könnten. „Wenn es nur wenige Mehlbeeren gibt, können es nicht plötzlich ganz viele werden.“
Unterdessen ist die Wahl des Jahresbaums 2025 schon entschieden. Bis Ende Januar lief die geheime Abstimmung durch die mehr als 30 Juroren. Zur Auswahl standen Burgen-Ahorn, Rot-Eiche und Zirbe. „Eine ganz spannende Mischung“, sagt der Baumprofessor. Ausgerufen wird der Sieger wie stets erst im Oktober. Prognosen gibt Roloff keine ab. Warum sollte er auch? „Ich finde alle drei klasse!“
Andreas Roloff,
Seniorprofessor für Baumbiologie