Sächsische Zeitung (Dippoldiswalde)
Mord und Kirchenraub der Bande des Lips Tullian
Vor 320 Jahren erlebten die Orte im Osterzgebirge eine ganze Einbruchsserie. Vor allem Kirchen wurden zum begehrten Objekt. Wer dahinter steckte.
Insgesamt 29 Einbrüche sind allein für 1704 dokumentiert, die dem legendären Räuberhauptmann Lips Tullian und seiner Bande zugeschrieben werden. Die Rückzugsgegend der Bande, das „Revier“, befand sich in der Gegend um Klingenberg, Bobritzsch und Colmnitz. Hier hatte sich unter den Bewohnern ein Netzwerk aus Helfern und Helfershelfern manifestiert. Die Räuber hatten sich mit der Zeit auf Kirchen „spezialisiert“. In den gut gesicherten Sakristeien lagerte das Bargeld in großen Truhen oder in die Wände eingelassenen Schränken. Die waren mit schmiedeeisernen Beschlägen und mehreren, oft mit geheimen Mechanismen funktionierenden Schlössern versehen. Die Truhen hatten schon in leerem Zustand ein hohes Eigengewicht, sodass eine gut gefüllte Schatulle dieser Art kaum getragen werden konnte.
Ein Buch, das 1719 unter dem Titel „Des bekannten Diebes, Mörders und Räubers Lips Tullians, und seiner Complicen Leben und Übelthaten“in Dresden erschien und aus der Feder eines der Mitglieder der Ermittlungskommission stammen soll, hat die Taten überliefert. Es berichtet von bestechenden Details der beeindruckenden Verbrecherkarriere.
Die Einbruchsserie begann am 2. Februar 1704 in der Kirche zu Rabenau: „Den 2. Febr. am Lichtmeß-Fest zur Nacht wurde die Kirche zu Rabenau bestohlen / und stiegen die Diebe durch ein nicht allzuwohl verwahrtes Fenster / erbrachen die mit Schlössern wohl-verwahrte Sacristey-Thüre ingleichen den Gotteskasten“, aus dem sie über 30 Taler stahlen. Die Beute war bei Weitem nicht wie erhofft.
Auf dem Weg zurück ins „Revier“kam die Meute an der Höckendorfer Kirche vorbei, sie wurde gleich mit ausgeraubt, sei es geplant gewesen oder ein GelegenheitsEinbruch. „In obiger Nacht gingen diese Diebe auch nach Höckendorff / brachen die Kirche auff / und brachten das in nachgefügter Specification [Auflistung, d.Red.] enthaltene Geld und andere Sachen weg.
10 Thaler 17 Groschen an baaren Gelde / von der Einnahme der Säckel und GottesPfennigen / Hochzeiten und gelösten Kirchen-Ständen / aus dem erbrochenen Gotteskasten an allerhand gemeinen Sorten / darunter etliche Thaler, kleine Pfennige […] das gute weisse Chorhemde / dazu ohngefähr 8 Ellen von dem kläresten weissen Gezeuge mit rothen Atlas / daffenden Batten [kostbare Textilien, d.Red.] und Schildern.“Das kostbare Altartuch, ein Altarteppich, Messtücher, alles ging mit, selbst halb abgebrannte Kerzen wurden nicht verschmäht.Was in der Nacht des 7. Februar dem „Wasserbrenner“(gemeint ist geistiges Wasser!) Jacob Hähnel, seinerzeit in Tuttendorf bei Freiberg ansässig, widerfahren ist, gibt er einige Jahre später gegenüber Gerichtspersonen zu Protokoll: Gegen Mitternacht klopfte ein Unbekannter an die Tür des damals 47-Jährigen und verlangte unter dem Vorwand, seine Frau sei krank, nach Branntwein. Schlaftrunken öffnete Hähnel ihm die Tür; im selben Moment stürmten zwei Gestalten auf ihn zu, packten ihn an den Armen und warfen ihn zu Boden, „darauf sie denn mit einem mäßigen Zaun-Pfahl ihn so gleich gantz entsetzlich auf den Kopf geschmissen / daß er 7 Löcher in Kopff bekommen / und das Geblüthe häufig von ihm gefloßen“. Hähnels Frau wurde „nackend“aus dem Bett gezerrt, „darauff hätte ihr einer auf dem Leib gekniet / und 3 Ribben im Leibe verrencket / auch sie mit geballter Faust in ein Auge geschlagen“.
Beiden werden geknebelt und im Keller weiter traktiert. Hähnel erinnert sich an drei Gestalten, wovon einer rötliche Kleider anhatte und krauses Haar trug, während die anderen beiden „Gruben-Kittel“und grüne Schacht-Mützen trugen. Um 42 Taler wurde Hähnel in dieser Nacht erleichtert, und nachdem der rötlich betuchte Räuber ihn noch nach weiteren Geldverstecken befragt, diese aber von Hähnel verneint wurden, wünschte der Anführer eine gute Nacht – und die Gewalttäter verschwanden. Derartige Raubüberfälle sprachen sich schnell herum in der Gegend – und hatten vor allem eins zur Folge: Angst.
Die Einbrüche setzen sich in Leipzig fort. Am 7. Februar wurde der Buchhalter Bentz im Auerbach’schen Hofe beraubt, am 14. der Gastwirt der Tanne, Johann Klotwig, am 20. der Bürger und Bäcker Christian Sollbrig. Und da die reichen Handelsstädte gute Beute versprachen, ging es zur Fastnachtszeit in Dresden weiter: Die Maurerswitwe Andreas vorm Wilsdruffer Tore wurde um über 80 Taler und gute Dukaten beraubt. Am 21. Februar der Stadtmajor Lange in seinem Quartier vor dem Pirnischen Tor, er verliert gut 150 Taler – und den halben Hausrat. Vor allem gute Kleidung, allerlei aus Edelmetall gefertigte Gegenstände, Degen, Messer, sogar ein „Zahnstocher mit Silber beschlagen / in einer grünen Scheiden“.
Den 2. März des Sonntags zur Nacht ist die Sakristei an der Kirche zu Pretzschendorf erbrochen worden. Die starken Türen wurden mit Hacken aus den steinernen Türgewänden gerissen und die Geldtruhe aufgebrochen. Darinnen: Schuldverschreibungen. Zwar im Wert von stattlichen 5.000 Gulden, doch wertlos für die Diebe. Der Einbruch war umsonst.
Im selben Jahr folgten noch Einbrüche in die Kirchen Plossewitz bei Oschatz, Prießnitz bei Dresden, Oederan, Strehla, Schkeuditz und Altenburg. In Colditz und Geringswalde wurden die Steuereinnehmer zum Ziel, in Colmnitz das Rittergut. Das lukrative Einbruchsjahr 1704 wurde am 27. Dezember abgerundet mit einem nächtlichen „Besuch“beim Freiberger Stadtrichter Johann George Steinmetz, dessen „Eheliebste Geschmeide und Pretiosa weggenommen“wurden, alles in allem edelster Schmuck im Wert von über 334 Taler. Nicht weniger schmerzhaft dürfte der Verlust des Baren von über 305 Taler gewesen sein. Da sind die daffendenen und damastenen Vorhänge und Bettdecken noch gar nicht mit eingerechnet.
Haft-Jahre bringen keine Läuterung
Am 5. Januar 1705 wird Tullian verhaftet, bei der Neujahrs-Messe 1710 gelingt es ihm zu fliehen. Zurück bei der Bande, findet er alle Strukturen noch als intakt vor. Auf Hochtouren wurde dann im Jahresverlauf 1710 geklaut, bis der Chef am 19. September 1710 in Freiberg erkannt und gefasst wurde. Über Jahre blieb er verstockt, kein Wort über seine Taten kam über seine Lippen, bis die Justiz zu drastischen Mitteln griff: Über Wochen wurde er sitzend, die Hände hinter dem Rücken geknebelt, bestückt mit einem Eisenkranz um den Hals, festgeschlossen. Die Schmerzen wurden unerträglich, er meinte sich bei lebendigem Leib in der Hölle wiederzufinden. Tullians Kraft zerbrach; und er gestand. Nach und nach alles, was ihm einfiel. Und ohne Rücksicht zog er alle seine Helfer mit in den Strudel des Verderbens.
Bei seiner ersten Vernehmung im Festungskerker der Stadt Dresden gestand er 36 Delikte. Einbruch, Diebstahl, Hehlerei, Körperverletzung, Geiselnahme, versuchter Ausbruch aus der Gefangenschaft, Widerstand gegen die Obrigkeit, Mord. Alles war dabei. Darunter die Kirchenraube von Rabenau und Höckendorf, er bekennt, „daß er in einer Nacht zwey Kirchen / zwey Stunden von Klingenberg andernwärts nach Dresden gelegen / erbrochen / und er von dem geraubten Geld 7 Taler erhalten.“Nachgehends noch an Verbrechen „eingefallen“seien ihm elf weitere Delikte: „Desgleichen die Kirche zu Pretzschendorff / darinnen 5000 Taler seyn sollen / an welcher sie an die 4 Stunden mit großer Mühe gearbeitet / und doch endlich kein Geld / sondern nur ein Kästlein mit Obligationen und Consensen gefunden [...]“.
Am 18. März 1715 wurde die ganze Bande auf Dresdens Richtstätte vor den Toren der Neustadt publikumswirksam geköpft und gerädert. Zehntausende Zuschauer sollen anwesend gewesen sein, auf einer Tribüne wohnte selbst August der Starke mit seinem Gefolge bei. Wer Lips Tullian wirklich gewesen war, ist bis heute ein Rätsel, denn er bediente sich vielerlei Identitäten. Genauso geheimnisumwittert ist der Verbleib all des Baren, das er geraubt hat.