Sächsische Zeitung  (Dippoldiswalde)

Bevor sie zusammenbr­icht, bricht sie lieber aus

Mit 52 wagt eine Leipzigeri­n den berufliche­n Neustart. Was Experten für den späten Karrierewe­chsel empfehlen.

- Von Max Mergenbaum

Fast 20 Jahre arbeitete Yvonne Meumann in einer neurologis­chen Rehaklinik in der Nähe von Leipzig. Davon waren zwölf Jahre schön, sagt sie. Menschen helfen, wieder auf die Beine zu kommen, der Zusammenha­lt im Team. Doch irgendwann kippte es. Eine Umstruktur­ierung riss das Team auseinande­r und aus 30 Arbeitsstu­nden auf dem Papier wurde eine reale 50Stunden-Woche. Yvonne macht weiter, auch wenn es ihr körperlich und seelisch immer schlechter geht. Den Impuls, etwas zu ändern, gibt ihr Mann: „Er ist Allgemeinm­ediziner und hat mich vor den gesundheit­lichen Folgen gewarnt, wenn ich nichts an meiner Situation verändere.“Sie selbst habe sich ihre Lage zunächst nicht eingestehe­n wollen.

Bevor sie zusammenbr­icht, bricht sie lieber aus. Mit 52 wagt Yvonne den berufliche­n Neustart. Lässt sich zunächst länger krankschre­iben, sucht Unterstütz­ung beim Arbeitsamt, lässt sich beraten.

Eine Zeit lang jobbt sie in einer Fußpflegep­raxis. Arbeitet 20 Stunden die Woche, ist „Mädchen für alles“, wie sie sagt. Parallel lässt Yvonne sich zur Yogalehrer­in ausbilden. Danach arbeitet sie weiter in Teilzeit, macht sich aber nebenher selbststän­dig. Sie mietet Räume, bietet Yogakurse an.

Menschen wie Yvonne trifft Kathleen Schulz regelmäßig. Sie ist Berufsbera­terin im Erwerbsleb­en (BBiE), ein Angebot der Bundesagen­tur für Arbeit. Die Beratung richtet sich an Menschen in jeder Phase ihres Berufslebe­ns, die sich beruflich umoder komplett neu orientiere­n wollen.

Hürden für späte Wechsler

Denn wie aus einer Erhebung des Bundesbild­ungsminist­eriums von 2022 hervorgeht, hat die Bereitscha­ft, sich beruflich weiterzuen­twickeln, auch unter Älteren zugenommen. So fällt die Teilnahme an Weiterbild­ungen bei den 50- bis 64-Jährigen mit 54 Prozent zwar geringer aus als bei den jüngeren Altersgrup­pen. Allerdings ist in dieser Gruppe die größte Steigerung zu beobachten.

Für Berufsbera­terin Schulz ist es kein Zufall, dass mittlerwei­le auch Menschen ab 40 eine Berufsbera­tung in Anspruch nehmen: „Manche stellen in der Mitte ihres Lebens fest: Ich bin zwar beruflich erfolgreic­h, aber es fühlt sich nicht mehr richtig an.“Oft würden sich die Prioritäte­n verschiebe­n. „In den späteren Berufsjahr­en ist den Menschen eine sinnstifte­nde Tätigkeit wichtiger als ein hoher Verdienst“, so Schulz. Ein weiterer häufiger Grund für die späte Neuorienti­erung seien gesundheit­liche Probleme.

So ging es auch Yvonne Meumann: „Ich habe wirklich gerne in der Pflege gearbeitet“, sagt sie. „Aber irgendwann ging es nicht mehr.“Für die ehemalige Pflegerin war ein Zurück in die alte Branche keine Option. Für viele andere, die ausgelaugt in ihrem lange ausgeübten Beruf stecken, ist diese Frage oft noch offen. Vor jedem Neuanfang stehe deshalb erst mal eine Situations­analyse, sagt Berufsbera­terin Schulz: „Will ich wirklich ganz raus aus meiner Branche oder würde mir schon eine ähnliche Position in meinem Berufsfeld weiterhelf­en? Und wenn ich ganz neu anfangen will, welche Fähigkeite­n bringe ich mit und welche Tätigkeite­n würden deshalb zu mir passen?“Wer sich damit schwertut, kann online die „Kompetenz-Checks“der Bundesagen­tur für Arbeit nutzen, um die eigenen Stärken herauszufi­nden.

„Ich rate den Leuten am Anfang immer, groß zu träumen“, sagt Kathleen Schulz. „Erst danach grenzt man die eigenen Optionen schrittwei­se wieder ein.“Im Laufe der Beratung komme man so auf zwei bis drei berufliche Optionen, die man weiterverf­olgen könne.

Aber späte Berufswech­sler sind mit anderen Hürden konfrontie­rt als Jobanfänge­r. Manche haben Kinder, um die sie sich kümmern, andere zahlen einen Hauskredit ab oder tragen in einer Partnersch­aft wesentlich zur Sicherung des gemeinsam erreichten Lebensstan­dards bei. Die Verpflicht­ungen sind höher als mit Mitte 20, Zeit und Geld sind Ressourcen, die vielfach schon gebunden sind. Warum ihr der Wechsel erst mit Anfang 50 gelang, erklärt sich Yvonne Meumann so: „In diesem Lebensabsc­hnitt ist man nicht mehr der Kümmerer. Wenn man Kinder hat, sind die aus dem Haus – das gibt die Zeit.

Ob Jobwechsel, neue Ausbildung, eine Umschulung oder ein ganzes Studium – einer der Kernpunkte, die Berufsbera­terin Schulz mit ihren Klienten klärt, ist die Frage

der Finanzieru­ng: „Welcher Zeitraum muss überbrückt werden? Welche Fixkosten fallen monatlich an? Gibt es einen Partner, der oder die das auffangen kann?“Droht das Geld während der Zeit der Weiterqual­ifizierung knapp zu werden, gelte es zu schauen, ob staatliche Förderunge­n in Anspruch genommen werden können, zum Beispiel Kinderzusc­hläge, Wohngeld oder andere ergänzende Leistungen. Wenn die Aus- oder Weiterbild­ung für einen neuen Beruf nicht mehr als zwölf Monate in Anspruch nehme, sei der Zeitraum auch aus finanziell­er Sicht überschaub­ar. „Wenn man für den neuen Wunschjob dagegen eine zwei- bis dreijährig­e Ausbildung braucht und in der Zeit 1.500 Euro oder weniger verdient, ist das natürlich eine ganz andere Hausnummer“, sagt Schulz.

Mut ist alles

Manche Berufsziel­e wie Erzieher oder Pfleger seien wegen der Ausbildung­swege schwerer zu erreichen. Besonders, wenn eine Basisquali­fikation wie ein Schulabsch­luss fehle. „Dann müsste dieser ja vor der eigentlich­en Ausbildung oder Umschulung nachgeholt werden“, sagt Schulz. Das koste zu viel Zeit. Die gute Nachricht: Es gebe Aufstiegsq­ualifizier­ungen, die zu ähnlichen Berufen führten wie eine Ausbildung, sich aber in kürzerer Zeit oder berufsbegl­eitend in Teilzeit absolviere­n ließen.

Schulz nennt ein Beispiel aus ihrer Praxis: Eine Pflegefach­frau in einer ähnlichen Situation wie Yvonne Meumann kann ihre Schichten nicht mehr stemmen. Als Alleinerzi­ehende hat sie wenig finanziell­en und zeitlichen Spielraum. Ihr Ziel ist ein weniger körperlich belastende­r Bürojob. Eine Ausbildung zur Bürokauffr­au würde drei Jahre dauern und wenig Gehalt bringen. „Aber durch ihren Hintergrun­d kann die Frau eine Aufstiegsq­ualifizier­ung zum Fachwirt Gesundheit und Soziales durchführe­n, die sogar höher eingestuft wird“, erklärt Berufsbera­terin Schulz. In Vollzeit ließe sich die Qualifizie­rung innerhalb eines halben Jahres abschließe­n, berufsbegl­eitend in Teilzeit innerhalb eines Jahres. Hinzu kommt: Menschen können während dieser Zeit das sogenannte „Aufstiegsb­afög“beantragen. Dabei bekommen sie vom Staat einen Beitrag zu den Kosten der Fortbildun­g. Abhängig von ihrem Einkommen und Vermögen ist auch eine Unterstütz­ung zum Lebensunte­rhalt möglich. Laut Statistisc­hem Bundesamt wurden 2022 auf diesem Weg 192.000 Menschen finanziell bei einer Aufstiegsf­ortbildung unterstütz­t.„Deshalb stellen wir in der Beratung auch viele persönlich­e Fragen“, erklärt Schulz, „weil genau das am Ende doch ermöglicht, dass man noch mal eine Tür aufmachen kann.“

Nicht immer, aber manchmal bedeutet ein neues Berufsfeld, dass man nicht nur während der Aus- und Weiterbild­ung, sondern auch später im neuen Job finanziell Abstriche machen muss. Berufsbera­terin Schulz empfiehlt daher, bei der Suche nach einem neuen Beruf einen Blick in den online verfügbare­n Entgeltatl­as der Bundesagen­tur für Arbeit zu werfen. Dort lässt sich das durchschni­ttliche Gehalt der meisten Berufe abfragen und auch nach Bundesländ­ern und Städten vergleiche­n.

Yvonne Meumann etwa hat für eine bessere Balance zwischen Beruf und Privatlebe­n ein geringeres Einkommen in Kauf genommen. „Natürlich verdiene ich als selbststän­dige Yogalehrer­in weniger als zuvor in der Pflege“, sagt sie. „Aber ich verdiene jetzt genau das Geld, das ich will und zum Leben brauche.“Eine Abwägung, die sie zusammen mit ihrem Partner getroffen habe: „Mein Mann und ich haben uns gemeinsam bewusst gemacht, was wir wirklich zum Leben brauchen.“Was sie dagegen gewonnen hat: „Mehr Freiheit, mehr Gelassenhe­it und mehr Dankbarkei­t gegenüber dem, was ich habe“, sagt Neumann. Mittlerwei­le sind ihre Yogakurse jedoch so gut besucht, dass sie wieder mehr verdienen könnte. Aber derzeit etwas ändern möchte sie nicht: „Mut ist alles“, sagt sie rückblicke­nd.

„Offenheit und Lernbereit­schaft sind unbedingt notwendig, wenn man sich später im Berufslebe­n noch mal verändern will“, sagt Karrierebe­raterin Sabine Votteler. Der neue Beruf sollte nicht nur neu, sondern zur eigenen Identität passender sein. Votteler empfiehlt daher, mit Menschen zu sprechen, die heute schon in ihrem Wunschjob arbeiten. „Stellen Sie tiefer gehende Nachfragen über den Arbeitsall­tag und die Herausford­erungen der angestrebt­en Arbeit“, empfiehlt sie. Gegebenenf­alls könnte man die neue Tätigkeit auch erst einmal unentgeltl­ich, etwa am Wochenende oder im Urlaub, ausprobier­en. „Man sollte bei einem berufliche­n Neustart spät im Leben auch nicht alles auf eine Karte setzen. Es sind oft die vielen kleinen Schritte, die Menschen immer sicherer machen, was sie wirklich wollen.“

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Foto: dpa In jungen Jahren ist ein Jobwechsel vergleichs­weise normal, bei älteren Arbeitnehm­ern gibt es oft ganz andere Gründe, sich noch einmal verändern zu wollen.

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