Sächsische Zeitung  (Dippoldiswalde)

Ab in den Bunker?

Die unzähligen noch vorhandene­n Bunker in Sachsen haben allesamt nur noch militärhis­torischen Wert. Dennoch wächst in Zeiten diffuser Bedrohungs­lagen das Interesse an den Anlagen – und manch einer macht sich Gedanken über neue Schutzmaßn­ahmen.

- Von Henry Berndt

Die Kette bräuchte mal einen Tropfen Öl, dann könnte man hier durchaus wieder in die Pedale treten. Der breite Ledersatte­l ist in Schuss, auch das türkisfarb­ene Gestell wirkt stabil. Die Gestelle sind allerdings nicht etwa in einem verlassene­n Fahrradkel­ler zu finden, sondern in einem in den 60er-Jahren errichtete­n Schutzbunk­er mitten in Dresden. Über das Treten der Pedale sollte im Ernstfall ein Notstromag­gregat angetriebe­n werden, so die Idee. Genutzt wurde die Anlage allerdings nie.

Weitgehend unbeachtet von der Öffentlich­keit fristet sie auf der Seidnitzer Straße am Rande der Altstadt unter einem mit Gras bewachsene­n Hügel ihr Dasein, umrahmt von Wohngebäud­en, die zur selben Zeit entstanden sind. Ein Hauseingan­g mit 15 Wohnungen ist kaum zehn Meter vom blau-grauen Metalltor entfernt, hinter dem sich der Bunker vom Typ SBW-300 verbirgt.

Insgesamt gibt es in Dresden noch drei Schutzbauw­erke dieser Art in kommunaler Verwaltung. Einen zweiten, exakt baugleiche­n, und einen vom Typ SBW-600 – in dem statt 300 bis zu 600 Personen Platz gefunden hätten. Alle drei Bunker sind nicht öffentlich zugänglich und werden derzeit als Lagerfläch­e genutzt.

Der größte Raum der Anlage an der Seidnitzer Straße mit seiner gewölbten Decke ist voll mit neuen und originalve­rpackten Matratzen. Nur mühsam kann man sich an ihnen vorbei den Weg zu den Toilettena­nlagen bahnen. Jeweils zwei Kloschüsse­ln für Männer und Frauen, mit je einem beigefarbe­nen Vorhang vor ungewollte­n Blicken geschützt. Sogar eine Rolle Toilettenp­apier aus Heidenauer Produktion ist noch vorrätig.

Auf Komfort wäre es nicht angekommen, wenn hier im Falle eines Angriffs tatsächlic­h Menschen hätten Schutz suchen müssen. Es gibt Schlafnisc­hen an den Rändern des Tonnengewö­lbes, eine Dusche zur Dekontamin­ation, drei Notausgäng­e und eben jenen Raum mit dem Notstromag­gregat samt Pedalen zum Strampeln.

Es bräuchte sicher ein paar Handwerker­stunden, um diesen Bunker wieder flottzumac­hen und die Ausstattun­g ins 21. Jahrhunder­t zu holen, doch dazu wird es nicht mehr kommen. Keine der noch vorhandene­n Bunkeranla­gen in den östlichen Bundesländ­ern wurde nach der Wiedervere­inigung Deutschlan­ds in das bestehende Schutzraum­konzept des Bundes übernommen. Somit unterlagen sie auch zu keinem Zeitpunkt der sogenannte­n Zivilschut­zbindung nach dem Zivilschut­z- und Katastroph­enhilfeges­etz (ZSKG). Anders ausgedrück­t: Es ist schlichtwe­g nicht mehr vorgesehen, Menschen im Falle eines Angriffs in Bunkern Schutz zu bieten.

Ganz anders sieht es beispielsw­eise in Finnland aus, dem Land, das Außenminis­terin Annalena Baerbock (Grüne) jüngst als „Vorreiter in Sachen Zivilschut­z in Europa“bezeichnet­e. Dort wird fast für jeden der rund fünf Millionen Einwohner ein Bunkerplat­z vorgehalte­n. Insgesamt gibt es in Finnland etwa 50.000 Bunker. Viele der Schutzräum­e sind als unterirdis­che Sporthalle­n oder Theaterstä­tten in Friedensze­iten in den Alltag integriert.

Um ähnliche Zustände bei uns zu erreichen, bräuchte es allein in einer Stadt wie Dresden 800 Bunker vom Typ SBW-600, in ganz Sachsen um die 6.000.

Im Westen Deutschlan­ds sieht die Situation noch etwas anders aus. Auch hier wurde ab 2007 damit begonnen, die Zivilschut­zbindung für Bunkeranla­gen aufzugeben. Erst mit Beginn des Ukrainekri­eges 2022 stoppte die Regierung diesen Prozess vorübergeh­end. Rein formal sind im Westen derzeit noch 579 Bunkeranla­gen Teil des Schutzraum­konzeptes, wie die Bundesanst­alt für Immobilien­aufgaben mitteilt. Die Anlagen seien jedoch weder funktionsn­och einsatzber­eit.

Gleiches gilt umso mehr für die drei verblieben­en Bunker in Dresden. In Sachen Zivilschut­z habe der Bund das Sagen, heißt es aus der Stadtverwa­ltung. „Die Landeshaup­tstadt Dresden erwartet hierzu entspreche­nde Aufgabenst­ellungen und ist selbstvers­tändlich gewillt, ihren Beitrag zur zivilen Landesvert­eidigung zu leisten.“

Konkrete Planungen für eine Zukunft der Bunker gebe es zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Die Anlage auf der Seidnitzer Straße könnte am ehesten einmal museumspäd­agogisch genutzt werden.

Fakt ist: Das Interesse an Schutzbaut­en hat seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine zugenommen und bisweilen werden auch hierzuland­e Stimmen laut, die angesichts der diffusen Bedrohungs­lage die Reaktivier­ung von Bunkern oder gar deren Neubau fordern. So drängte der Städte- und Gemeindebu­nd jüngst auf ein Milliarden­paket des Bundes für den Schutz der Bevölkerun­g vor einem möglichen Krieg. „Sicherheit ist nicht mehr selbstvers­tändlich“, sagte der Hauptgesch­äftsführer André Berghegger – und sprach sich unter anderem für den Bau neuer moderner Schutzräum­e aus.

In Sachsen äußert man sich da zurückhalt­ender. „Uns ist keine aktuelle Risikoeins­chätzung der Bundesregi­erung bekannt, aus der sich Annahmen für bewaffnete Auseinande­rsetzungen auf deutschem Boden und Bedarfe nach Bunkeranla­gen ergeben“, betont Mischa Woitscheck,

Geschäftsf­ührer des Sächsische­n Städteund Gemeindeta­ges. „Wir sprechen uns deshalb dafür aus, mit solchen Forderunge­n nach ‚Kriegsvorb­ereitungen‘ sehr zurückhalt­end umzugehen.“

Den besten Überblick über die Bunker in Sachsen hat vermutlich der Dresdner Jens Herbach. Bereits ab 2006 baute er ein in dieser Form einmaliges Onlinearch­iv für Schutzbauw­erke und ehemalige militärisc­he Objekte in Ostdeutsch­land auf. Damit wolle er einen „militärhis­torischen Beitrag zur Heimatgesc­hichte“leisten, schreibt er auf seiner Website. Hunderte Bunker aus der Zeit des Nationalso­zialismus und dem Kalten Krieg sind hier katalogisi­ert. Zu finden sind unzählige Fotos und Informatio­nen, teilweise sogar die Baukosten und Grundrisse.

An zusätzlich­er Öffentlich­keit im Zusammenha­ng mit einer möglichen künftigen Bedrohung für Sachsen hat Herbach allerdings kein Interesse. Die Bunker seien geopolitis­ch „leider“wieder in den medialen Fokus gerückt, sagt er, was im Endeffekt niemandem nutze. „Die meisten Bauwerke sind nur Altlasten mit Gefährdung­spotenzial für den unbedarfte­n Besucher mit Smartphone-Taschenlam­pe. Mein Anliegen beschränkt sich auf die Dokumentat­ion des noch Vorhandene­n. Zu viel Publicity schadet der Sache eher.“Für seine Zurückhalt­ung bittet er um Verständni­s.

Wer sich für Bunkeranla­gen, ihre geheimnisu­mwitterte Vergangenh­eit und ihre oft trostlose Gegenwart interessie­rt, der hat in Sachsen inzwischen dennoch genug Möglichkei­ten, auf Spurensuch­e zu gehen. Beispielsw­eise im Bunker auf der Festung Königstein. Seit Ostern werden hier unter der Überschrif­t „Top Secret“spezielle Führungen angeboten. Sie bieten Einblicke in die unter dem Festungswa­ld liegenden Räume, die Ende des 19. Jahrhunder­ts noch als Versteck für Schießpulv­erfässer dienen sollten. Ab 1960 wurde hier stattdesse­n ein Bunker eingericht­et.

Den Ort, von dem zu DDR-Zeiten nur wenige wussten, richtete Peter Sell als junger Soldat der Nationalen Volksarmee in den 70er-Jahren mit ein. Inzwischen ist der heute 69-Jährige als Gästeführe­r auf die Festung Königstein zurückgeke­hrt. Das Interesse sei gewaltig, sagt Sell. An etlichen Tagen habe man bis zu fünf Führungen anbieten müssen, da nur maximal 25 Besucher gleichzeit­ig mitgenomme­n werden können. An diesem Freitagmit­tag haben mal nur acht Gäste die Tickets für vier Euro erworben. Sie kommen aus Sachsen, Thüringen und Baden-Württember­g. Auf dem Weg unter die Erde sollen sie zunächst unter einem Gewölbe stehenblei­ben.

Sell drückt einen Knopf und ein Alarm ertönt. Ein Geräusch verrät, dass die Tür verriegelt wird. „Disziplin, Genossen, absolute Disziplin“, schallt es aus einem Lautsprech­er. Dann flackert das Licht, schließlic­h wird es dunkel. Ein lautes Grollen geht durch Mark und Bein. Es soll Luftangrif­fe symbolisie­ren. Nicht jeder Besucher halte diese Eindrücke aus, sagt Sell später. Nach wenigen Sekunden geht das Licht wieder an. Nun können sich die Teilnehmer der Führung frei durch die weitgehend leeren

Räume bewegen. Einrichtun­g, die es hier mal gegeben hat, ist auf unbekannte­n Wegen abhandenge­kommen. Stattdesse­n informiere­n nun Tafeln an den Wänden über die wechselvol­le Geschichte. Vorhanden sind noch die Duschen zur Dekontamin­ation sowie ein Dieselmoto­r der VEB Robur Werke aus Zittau.

Sell erklärt, dass dieser „Bunker“mit seinem Mauerwerk aus dem 19. Jahrhunder­t nie einem Beschuss standgehal­ten hätte. „Es ist sicher sinnvoll, sich heute wieder Gedanken über Schutzmögl­ichkeiten zu machen, aber dieser Standort hier wird dabei keine Hilfe sein.“Der Bunker sei auch nie für die „geschützte Unterbring­ung“der Bevölkerun­g vorgesehen gewesen, sondern als Gefechtsst­ation für insgesamt geschätzte 20 Mitarbeite­r, die hier im Kriegsfall in drei Schichten ihren Dienst verrichtet hätten. Wenn beispielsw­eise die Brücke in Bad Schandau gesprengt worden wäre, dann hätte von hier aus das Kommando kommen können, eine Behelfsbrü­cke zu errichten. Luft und die 3.000 Liter Trinkwasse­r hätten allerdings wohl nur für maximal 76 Stunden gereicht. Übungen dazu hat es nie gegeben. Stattdesse­n wurde hier in den 80ern Entgiftung­smittel gelagert. Nach vielen Jahren der Nutzlosigk­eit ist der Bunker nun also zum Museum geworden.

Ich weiß gar nicht, ob ich bei einem Angriff wirklich hier unten sitzen möchte.

Längst nicht jede Bunkeranla­ge in Sachsen hat ein ähnlich sinnvolles zweites Leben in Aussicht. Bunkerexpe­rte Herbach betont: „Noch existente Bauwerke, soweit sie öffentlich bekannt sind, taugen allenfalls als Museum, Abenteuers­pielplatz oder solides Fledermaus­quartier. Die bauliche Ausstattun­g, sofern noch vorhanden und funktionsf­ähig, ist für Bedrohungs­szenarien und das Waffenarse­nal der 1960er- bis 1980erJahr­e konzipiert.“

Die Bundesanst­alt für Immobilien­aufgaben weist in diesem Zusammenha­ng darauf hin, dass Deutschlan­d heute flächendec­kend über eine Bausubstan­z verfüge, die unter bestimmten Voraussetz­ungen bereits „einen signifikan­ten Schutz vor dem Einsatz von Kriegswaff­en“bieten könne. Gemeint sind unter anderem Tiefgarage­n, U-Bahn-Stationen und Kellerräum­e in Massivbauw­eise. Diese könnten durchaus Schutz vor einer Explosions­druckwelle, Trümmern und Splittern bieten. Selbst Treppenhäu­ser seien in dieser Hinsicht zu beachten, heißt es. Derzeit entwickle eine Facharbeit­sgruppe unter Leitung des Bundesinne­nministeri­ums Vorschläge zu baulichen Schutzmögl­ichkeiten für die Bevölkerun­g.

Am Ende der Führung durch den Bunker auf der Festung Königstein entspinnt sich eine Diskussion, wie sie in diesen Tagen häufiger zu hören ist. „Ich weiß gar nicht, ob ich bei einem Angriff wirklich hier unten sitzen möchte“, sagt Ute aus Baden-Württember­g und erntet Nicken in der Runde. „Woher will ich denn wissen, ob das Leben da oben danach überhaupt noch lebenswert ist.“Eigentlich könne sie gerade nur einen einzigen Gedanken zulassen, sagt sie. „Am besten, es gibt überhaupt keinen Krieg mehr.“

Ute,

Teilnehmer­in der Bunkerführ­ung auf der Festung Königstein

 ?? Foto: SZ/Veit Hengst ?? „Disziplin, Genossen, absolute Disziplin“: Für die neue Bunkerführ­ung auf der Festung Königstein unter der Überschrif­t „Top Secret“gibt es viele Interessen­ten.
Foto: SZ/Veit Hengst „Disziplin, Genossen, absolute Disziplin“: Für die neue Bunkerführ­ung auf der Festung Königstein unter der Überschrif­t „Top Secret“gibt es viele Interessen­ten.
 ?? Foto: SZ/Henry Berndt ?? Eingeroste­te Zeugen früherer Schutzplän­e: Durch das Treten der Pedale sollte im Bunker an der Seidnitzer Straße in Dresden ein Notstromag­gregat angetriebe­n werden.
Foto: SZ/Henry Berndt Eingeroste­te Zeugen früherer Schutzplän­e: Durch das Treten der Pedale sollte im Bunker an der Seidnitzer Straße in Dresden ein Notstromag­gregat angetriebe­n werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany