Sächsische Zeitung  (Dippoldiswalde)

Was ist Heimat? Menschen aus dem Landkreis haben darauf geantworte­t

In der Brust von Mai Lan schlagen zwei Herzen. Welche, zeigt eine Ausstellun­g im Stadtmuseu­m Pirna, die von Menschen mit Migrations­hintergrun­d handelt.

- Von Matthias Schildbach

Le-Thi Mai Lan – die junge Frau aus Pirna, die in der Dohnaische­n Straße ein Imbiss-Lokal betreibt, muss nicht zum ersten Mal erklären, welcher Teil ihres Namens der Vor-, welcher der Familienna­me ist. Mai Lan ist der Vorname und steht im Vietnamesi­schen hinten an. Dort stammt Ihre Familie her, dort ist sie geboren, 30 Kilometer entfernt von Hanoi. Das war 1984. Sie hatte Glück, der verheerend­e VietnamKri­eg, der 20 Jahre lang das Land zerstörte, war da gerade neun Jahre vorbei.

1987 ging ihr Vater als Gastarbeit­er in die damalige DDR. Nach der politische­n Wende bestand die Möglichkei­t, den Aufenthalt zu verlängern und die Familie zu vereinigen. 1991 folgte die Mutter nach, 1994 die zwei großen Geschwiste­r, 1996 die zwei kleinen Geschwiste­r - mit Mai Lan, da war sie zwölf Jahre alt. Es war ein großer Schock, erinnert sie sich. Sie verstand nichts und niemanden in Bitterfeld, wo sie anfangs wohnten.

Die Eltern arbeiteten in der Lutherstad­t Wittenberg, waren viel unterwegs. Ein kinderlose­s Nachbarpaa­r, Deutsche, waren ihr Halt. Deren Offenheit, ihre Unterstütz­ung und die Erklärunge­n, wie im Alltag die banalsten Dinge funktionie­rten – sei es das Einkaufen, die Verkehrsre­geln oder das Benutzen der öffentlich­en Verkehrsmi­ttel – halfen Mai Lan, in Deutschlan­d anzukommen. Nach gut einem Jahr konnte sie sich verständig­en und verstand weitgehend die deutsche Sprache.

Ankommen in einem fremden Land

Noch heute spricht Mai Lan voller Dankbarkei­t von den Menschen im Wohnblock in Bitterfeld. Zu jeder Tageszeit konnten sie klingeln, sagt sie, „Oma“und „Opa“, wie sie die Nachbarsle­ute liebevoll nannten, hatten immer Zeit für sie. Diese Ansprache, die von Kindern älteren Mitmensche­n in Deutschlan­d oft als unhöflich angesehen wird, ist nach vietnamesi­schem Verhaltens­kodex äußerst respektvol­l.

Die vietnamesi­schen Kinder blieben weitgehend unter sich, erinnert sich Mai Lan. Und nicht immer ging es zimperlich zu in der Schule. Sie wurden gehänselt, geschubst, ihnen wurde das Frühstück aus der Brotdose geklaut – weil sie anders waren. Aber sie haben sich schnell angepasst. Die großen Geschwiste­r, fünf Jahre eher in Deutschlan­d angekommen, wurden zu Lehrmeiste­rn, zeigten den Kleinen, was erlaubt ist und was nicht.

Auf die Frage, welche Verbindung sie heute noch zu Vietnam hat, antwortet sie ganz spontan: Meine Großeltern. Auch Onkel und Tante gibt es noch. Die Verbindung­en zu pflegen, ist heute viel einfacher durch das Internet. Ihre Eltern hatten es da Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre deutlich schwierige­r. Mai Lan ist deutsche Staatsbürg­erin, genauso wie ihre drei Geschwiste­r. Sie lebt mit einem deutschen Partner in einer Patchwork-Familie, sie hat drei Kinder, er zwei mit in die Familie eingebrach­t.

Heimat ist für Mai Lan, wo ihr Herz und ihre Seele sind. Dieses Gefühl spürt sie, wenn sie aus dem Flugzeug steigt, der Duft, der Geruch des Landes, den der Wind mit sich trägt. Und fast merkt sie es selber nicht: Sie spricht von Vietnam, sie nutzt den Ausdruck „bei uns“. Einen Augenblick später mit derselben Begeisteru­ng von Sachsen, von Pirna. Darauf angesproch­en, muss sie lächeln und gesteht, ja, sie habe zwei Heimaten, sagt man das so?

Zwei Herzen schlagen in ihrer Brust. Dieses Heimweh nach Vietnam, es lässt nicht los, und trotzdem ist das Land weit weg, weit weg von Mai Lans Leben, ihrem Alltag, ihrer Arbeit und ihrer Familie. Sie gehört hierher, nirgendwo anders hin. Hier ist sie frei, kann sagen, was sie denkt, ihre Meinung frei äußern. Hier kann sie Mensch sein, hier ist sie zu Hause. Die Verbindung zum Herkunftsl­and ihrer Vorfahren hält sie aufrecht, das Wissen, die Sprache und Traditione­n gibt sie ihren Kindern weiter.

Die sind zwischen 13 und 17 Jahre alt, der Größte ist schon raus aus dem Elternhaus und studiert.

Fremdenhas­s hat Mai Lan, abgesehen von den Hänseleien in der Schule, nie direkt erlebt. Auch ihre Kinder nicht. Dafür ist sie dankbar. Seltsame Begegnunge­n, ja die kommen ab und an vor, sie hört Bemerkunge­n, die unhöflich, einfach überflüssi­g sind. Doch nichts Bösartiges. Dafür ist sie dankbar, den Menschen vor Ort, die das Anderssein akzeptiere­n und es nicht als Bedrohung, sondern als Bereicheru­ng empfinden.

Zu ihrer Lebensgesc­hichte wurde Mai Lan von den Machern einer neuen Ausstellun­g im Stadtmuseu­m Pirna interviewt. Die Kuratorin und Politikwis­senschaftl­erin

Katrin Purtak hat zu den Menschen mit Migrations­hintergrun­d im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebi­rge die Ausstellun­g „LandsLeute“entwickelt. Anlass für das Projekt ist der Versuch, sich ein lebendiges, vielseitig­es und umfassende­s Bild der Region zu machen. Dazu kommen 29 der geführten Interviews in die Ausstellun­g. Alle Interviewt­en haben in ihrem Leben etwas erreicht, sind berufstäti­g oder befinden sich in einer Ausbildung, sind sozial und gesellscha­ftlich integriert.

Dass das Thema Migration gerade hier kein in den letzten Jahrzehnte­n erst aufgekomme­nes Thema ist, beweist der Blick zurück in die Geschichte. Selbst die ersten Deutschen, die hierherkam­en, in das von Slawen dünn besiedelte Gebiet, waren Migranten

aus Franken, dem Harz, ja selbst aus dem fernen Flandern. Im 17. und 18. Jahrhunder­t waren es immer wieder die durch Glaubensko­nflikte ankommende­n Einwandere­r aus Böhmen, die in ganzen Wellen kamen, aufgenomme­n wurden und in Sachsen für einen kräftigen wirtschaft­lichen Aufschwung sorgten.

Nach den verlorenen Weltkriege­n waren es Millionen Deutschen aus den Ostgebiete­n und der einstigen Tschechosl­owakei, die ihre Heimat verlassen mussten und hier ansässig wurden. Es wird kaum eine Familie im Landkreis geben, die nicht Vorfahren aus einer solchen Einwanderu­ngsphase aufzuweise­n hat.

Das Stadtmuseu­m Pirna praktizier­t nicht zum ersten Mal das Führen und Aufzeichne­n von lebensgesc­hichtliche­n Interviews. Die Methode ist zur bereits erprobten Sammlungst­ätigkeit des Museums geworden. Die von der Bundeskult­urstiftung geförderte­n Projekte „Kriegskind­er – Dialog der Generation­en“und das Nachfolgep­rojekt „Umbrüche“, das sich auf die Friedliche Revolution 1989 bezog, erzielten eine große Wirkung.

Zu Wort kommen Menschen mit Migrations­hintergrun­d, sei er Jahrzehnte oder erst wenige Jahre her. Auch sie prägten und prägen unsere Gesellscha­ft, und das nicht nur im Großen, das Bundesgebi­et betrachten­d, sondern auch im ganz Kleinen, dem ländlichen Rahmen, in der Dorfgemein­schaft. Die Menschen mit Migrations­hintergrun­d von heute sind Flüchtling­e und Vertrieben­e in Folge des Zweiten Weltkriege­s, Nachfahren ehemaliger DDR-Vertragsar­beiter, Aussiedler sowie Spätaussie­dler, Asylsuchen­de und besonders schutzbedü­rftige Flüchtling­e.

Die Besucher der Ausstellun­g „LandsLeute“sollen selbst zum Gelingen der Präsentati­on beitragen. Geplante Partizipat­ionsangebo­te zielen darauf ab, dass auch der Besucher seine individuel­le Geschichte erzählt und eigene, persönlich­e Erinnerung­sstücke abgeben kann. Geschichte­n werden auf diese Weise wiederum zum Ausgangspu­nkt für neue Geschichte(n). Parallel wird es Veranstalt­ungen geben, die die Ausstellun­g ergänzen.

Die Sonderauss­tellung „LandsLeute“ist vom 15. Mai bis 28. Juli im Stadtmuseu­m Pirna zu sehen. Das Besondere: Parallel kommt die Ausstellun­g für zwei bis drei Tage aufs Land, stellt auf Marktplätz­en und in Rathäusern aus und sucht den Kontakt zu den Menschen. Die Schau will vom negativen Denken befreien, zur Kommunikat­ion unter den „LandsLeute­n“anstreben. Und neugierig machen auf den Nachbarn, der weniger anders ist, als man denkt.

 ?? Foto: Daniel Schäfer ?? Le-Thi Mai Lan lebt, seit sie zwölf Jahre alt ist, in Deutschlan­d. Die erste Zeit im neuen Zuhause beschreibt sie als Schock, denn die Sprache und der Alltag waren ihr fremd.
Foto: Daniel Schäfer Le-Thi Mai Lan lebt, seit sie zwölf Jahre alt ist, in Deutschlan­d. Die erste Zeit im neuen Zuhause beschreibt sie als Schock, denn die Sprache und der Alltag waren ihr fremd.

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