Wo die Wilden wohnen
Wenn Städter aufs Land ziehen und dort heftigst scheitern: Der spanische Film „Wie wilde Tiere“ist eines der besten Kinodramen dieses Jahres geworden.
Just in diesen Tagen, da der letzte Monat angebrochen ist, glaubte man sich bereits im sicheren Hafen des Kinojahres, ließ vielleicht schon den Abspann laufen, erinnerte sich an die vielen guten und viel besseren Filme aus jüngster Vergangenheit. Und dann das! Aus spanisch-französischer Koproduktion keilen sich noch einmal 137 Minuten ins Gemüt, auf dass einem schwarz vor Augen werde. „Wie wilde Tiere“wird Rodrigo Sorogoyens Tragödie in Deutschland genannt, es ist kein guter Titel. „As Bestas“, der originale, hätte nicht verändert werden sollen, denn „Die Bestien“bringt dieses leider menschliche Leinwand-Dilemma völlig auf den Punkt.
Dunkle Bedrohungen im Herbstwald
Männer mit Furchen im Gesicht und gegerbten Händen, höchstens einsilbig, besser schweigend, sitzen in einer karg ausgeleuchteten Kneipe, trinken ohne große Gesten aus kleinen Gläsern, packen Steinchen auf den Tisch und spielen Domino. Gestern war es so, und morgen wird es nicht anders sein wie auch das hier: Einer der Männer, Xan (Luis Zahera), schwingt sich auf, um doch noch das Wort zu führen, hakelt nach, schnappt, beißt. Denn es gibt einen Adressaten im Raum, Antoine (Denis Ménochet), den Xan nur „den Franzosen“nennt, was er auch ist.
Vor Jahren kam der Ex-Lehrer mit Gattin Olga (Marina Fois), beide um die 50, ins bergige Hinterland Galiciens, fern von größeren Dörfern, um ausgerechnet hier einen Hof zu betreiben und etwas zu tun, das für die Einheimischen schwer zu glauben und noch schwerer zu verstehen ist. Das Ehepaar will neben ihrer biologischen Landwirtschaft die verfallenen Steinhütten der Verstorbenen und Weggezogenen wieder aufbauen, und zwar nicht, wie vor allem Xan zu wissen glaubt, als Casas für Touristen, sondern für die Leute von hier. Früher hätte es sogar Kinder gegeben, heißt es. „Die Menschen werden zurückkommen“, sagt Antoine. Es ist seine Perspektive.
Xan sieht es von Natur aus anders, denn er ist anders 50 geworden, fühlt sich provoziert, ist angespitzt, nennt Frankreich ein „Scheißland voller Barbaren und Eroberer“. Wer hier wen erobert, will er nicht wahrhaben. Was bis jetzt über Duldung und halbwegs friedliche Koexistenz unter Zufallsnachbarn zu laufen schien, eskaliert. Denn ausgerechnet hier sollen ein Windpark gebaut und private Ländereien gekauft werden. Keine zehn Unterschriften braucht es dafür, mehr Familien sind nicht mehr da. Allein Breixo, ein betagter Ziegenhirt, ist als Alteingesessener dagegen und Antoine sowieso. Die anderen sehen nur die Chance, die einmalige sogar, etwas Geld zu bekommen, damit das späte Leben etwas leichter wird. Wer, bitte, sollte nicht auch das verstehen?
Zunächst aber wird es schwerer. Verbale Sticheleien, gärendes Misstrauen und die boshaften Freundlichkeiten wären für Antoine und Olga wohl noch etwas länger zu ertragen gewesen, doch Xan und sein jüngerer Bruder Lorenzo (Diego Anido) greifen zu neuen Mitteln. In der Stadt hieße es Stalking, was sie nachts vor dem Wohnhaus des Paares treiben, Bedrohung, was im Dunkel auf den Wegen im Herbstwald geschieht, offene Sabotage, was in der Zisterne landet und die Tomatenernte ruiniert.
Die Polizei nimmt stoisch Protokolle auf, doch Antoine weiß, dass er sich jetzt selbst helfen muss. Ob das mit der Videokamera so eine gute Idee war, sei dahingestellt. Menschlich zu begründen ist es allemal, und auch, dass er wieder und wieder das Gespräch mit den Brüdern sucht, weil er es suchen muss. „Ist es das wert?“, fragt Olga. „Natürlich ist es das wert“, antwortet ihr Mann. Er ist es sich schuldig.
Überall dort, wo „Wie wilde Tiere“jetzt gezeigt wird, braucht es einen Überspannungsschutz im Saal. Unfassbar schnell, unerbittlich ruhig, physisch und eben nicht zuvorderst den großen Diskursen über Land- und Stadtflucht folgend, ziehen Regisseur Rodrigo Sorogoyen und Ko-Autorin
Isabel Peńa mit Inszenierung, grandioser Tonspur, knapp-präzisen dreisprachigen Dialogen und fulminanten Darstellern in ihren Film hinein. Waren es am Beginn noch visuell unschlagbare Zeitlupenstudien von mit Wildpferden ringenden und dem traditionellen Ritual „rapa das bestas“folgenden „Aloitadores“, folgt alsbald nur noch das Kämpfen unter Menschen.
Die Szenen einer Ehe – mild, versöhnlich, voll der Liebe – wirken wie Pflaster, gleichsam, wenn Antoine sanft mit seiner erwachsenen Tochter Marie (Marie Colomb) am Bildschirm spricht, die in Frankreich mit dem Enkelsohn lebt. Auch die Momente, die Olga und Antoine im Dorf mit Menschen verbringen, die sich ihnen aufrichtig zuwenden, sind rar. Konstellationen wie diese sind dem sorgsam umhegten Genre des Westerns nicht fremd. Rodrigo Sorogoyen wollte genau das. Er inspirierte sich für seine Fiktion von wahren Begebenheiten, ließ Stolz, Kraft und Wut auf Friedfertigkeit, Angst und Ohnmacht prallen, bediente sich bewusst einer distanzierten Kamera, Landschaft als Kulisse und vor allem der, wie er sagt, „ursprünglichen Wildheit als Gegenpol zur Zivilisation“.
Ein Ende auf feuchter Erde
Als man den drei männlichen Hauptfiguren in deren gegenseitigen Umkreisen weiter folgen will, Böses ahnend, Gutes hoffend, setzt der Film dem mit schwerem Keuchen, Krächzen und Wälzen auf feuchter Erde ein Ende. Und wechselt die Perspektive. Olga übernimmt. Marie steigt ein, auch mit der Mutter der Brüder Xan und Lorenzo wird es noch eine überwältigende Szene geben. „Wie wilde Tiere“betritt duales Terrain, ohne auch nur einen Deut seiner cineastischen Kraft einzubüßen.
Irgendwann, wenn man Luft holt und ebensolche bekommt, wird plötzlich wieder klar: Schon 2022 kam mit „Alcarras“ein grandioses Familiendrama aus dem ländlichen Nordspanien. Carla Simons Film ist inzwischen fürs Heimkino erhältlich. Noch ist Zeit für echte Geschenke.
„Wie wilde Tiere“läuft im Programmkino Ost und in der Schauburg (Dresden). „Alcarras“ist bei Piffl Medien als DVD/Blu-ray erschienen.