Sächsische Zeitung (Döbeln)

Wie sich eine Jugendlich­e von ihrer Magersucht befreite

Vor vier Jahren aß Kristin kaum mehr als ein bisschen Gurke und Apfel am Tag. Sie suchte sich Hilfe und startete in einer Wohngemein­schaft in Moritzburg eine harte Auseinande­rsetzung mit sich selbst.

- Von Lucy Krille

Der 25. Februar 2020 war der Tag, an dem Kristin auf eigenen Wunsch in die Jugendpsyc­hiatrie kam. Einer der Wendepunkt­e in ihrem noch jungen Leben, den das Mädchen aus dem Vogtland genau im Kopf hat. Sie erinnert sich, wie ihr Vater das erste Mal weinte. Heute sitzt die 17-Jährige in der Wohngemein­schaft Haus Awhina in Moritzburg. Vor dem Treffen hat sie noch Nudeln gegessen – etwas, was früher nicht selbstvers­tändlich gewesen wäre. Sonnenlich­t strahlt durch die großen Fenster auf die Arme der jungen Frau, die in einem braunen Pullover stecken. Ihr Äußeres lässt nicht erahnen, dass sie als 14-Jährige mit 1,53 Meter nur 34 Kilogramm wog.

Im Herbst 2019 begann Kristin, keine Süßigkeite­n mehr zu essen. „Da war ich stolz auf mich.“Dann holte sie beim Essen nicht mehr nach. „Eine Portion reicht ja“, dachte sie sich. Sie aß immer weniger, irgendwann fehlte ihr die Energie für ihr liebstes Hobby, den Fußball. Zu ihrer „schlimmste­n Zeit“aß sie kaum mehr als ein bisschen Gurke und Apfel. „Außerdem hab ich viel getrunken.“

In der Klinik wollte man sie wieder aufpäppeln, doch das zeigte keine nachhaltig­e Wirkung. Als sie wieder zu Hause war, sollte sich Kristin täglich wiegen. 40 Kilogramm war die Minimalgre­nze. „Natürlich habe ich das ausgenutzt“, sagt das Mädchen heute und weiß, dass sie der Magersucht damals noch lange nicht entkommen war.

Fast ein Jahr nach ihrer Entlassung ging Kristin deshalb in die Wohngemein­schaft Awhina, die von der Produktion­sschule Moritzburg betrieben wird. Ein weiterer Wendepunkt in ihrem Leben, dessen Datum sie genau im Kopf hat. Es war der 28. Mai 2021, als sie bei ihrer Familie auszog. Im vergangene­n Juli endete die Zeit in Moritzburg.

Die Einrichtun­g ist auf junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren spezialisi­ert und hat 14 Plätze. Das Wohnangebo­t richtet sich an Betroffene von Magersucht sowie Bulimie – eine Ess-Brechsucht – und sogenannte­r Binge-Eating-Disorder. Letztere geht oft mit unkontroll­ierten Essattacke­n einher. Um die Krankheite­n zu heilen, werden die jungen Menschen sozialpäda­gogisch begleitet und arbeiten mit eier Ernährungs­therapeuti­n und Psychologi­n.

Das Leben in solch einer Kinder- und Jugendhilf­eeinrichtu­ng wie der Awhina unterliegt vielen Strukturen. Für Kristin, die heute selbststän­dig und reflektier­t wirkt, war das nicht immer einfach. An eine Regel erinnert sie sich noch heute: Alle mussten bis 22 Uhr zurück sein, was bedeutete, dass Kristin den Winter über nicht zum Fußballtra­ining gehen konnte. „Das habe ich damals nicht verstanden“, sagt die 17-Jährige. Schon im Vogtland hatte sie Fußball gespielt. Als sie die 42-Kilo-Grenze überschrit­ten hatte, durfte sie wieder kicken.

Auch wenn sofort die Gedanken kamen, dass sie eigentlich nicht so viel wiegen will. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass ihr der Sport guttut. Aber nicht, um abzunehmen.

Bei den Mitarbeite­nden der beiden WGs hat sie mit ihrem Talent Eindruck hinterlass­en. Bei ihrem Besuch kommen ihr ehemaliger Betreuer und sie schnell wieder darauf zu sprechen. Sie treffen sich in der Küche, einem zentralen Ort in der Awhina, wo Ernährungs­beraterin Evelyn Auer gerade Kekse vorbereite­t. „Bei vielen dreht sich 23 Stunden am Tag alles ums Essen“, sagt der Projektver­antwortlic­he Christian Rüdiger. Um Essen wieder als etwas Normales wahrzunehm­en, gibt es einen Plan mit sechs Mahlzeiten.

Das ist zunächst wichtig, um den Körper wieder in ein Gleichgewi­cht zu bringen, die Mengen auszubalan­cieren und wichtige Nährstoffe zuzuführen. Das klassische Modell Frühstück-Mittag-VesperAben­dbrot baut man in Moritzburg bewusst aus. „Viele Menschen mit Essstörung­en würden sich allein keine Zwischenma­hlzeit zugestehen. Die eigene Entscheidu­ngsfreihei­t durch die Erkrankung ist oftmals zu begrenzt“, erklärt Christian Rüdiger. Hier sollen sie sehen, dass das vollkommen in Ordnung ist. Das Ziel ist klar: „Essen ist Grundbedür­fnis jedes Menschen und soll wieder unbefangen und intuitiv als etwas Positives erlebt werden.“

„Mit Krankheits­beginn fehlt oft noch die Fähigkeit zur Selbsteins­chätzung“, sagt Rüdiger. Kristin dagegen wusste früh, was mit ihr los ist. Ihre Mutter fragte sie vier Wochen nach ihrem Süßigkeite­nentzug beim Shoppen in der Umkleideka­bine das erste Mal, ob sie abgenommen habe. Ihre Tochter wollte das zunächst geheim halten, merkte aber relativ früh, dass es nicht geht, und suchte sich übers Internet Hilfe. „Es ist wirklich besonders, dass sie selbst aktiv geworden ist“, sagt Rüdiger im Rückblick. Normalerwe­ise komme der Impuls aus dem Umfeld. Das sei auch wichtig, sagt Rüdiger. „Essstörung­en haben die höchste Sterblichk­eit unter den psychische­n Störungen bei Kindern und Jugendlich­en.“Deshalb sollten Personen, die einem nahe stehen, Veränderun­gen am Körper oder beim Essen ansprechen. Während der Corona-Pandemie fehlte dieser Spiegel von außen, Essstörung­en nahmen zu. Mittlerwei­le sei das Erkrankung­slevel wieder rückläufig, sagt Rüdiger, wenn auch über dem Vor-Corona-Niveau.

Einen weiteren Treiber sieht Rüdiger im Supermarkt selbst. „Überall gibt es Low Fat, High Protein oder Low Sugar Produkte“, sagt er. Dabei sei das normale, vollwertig­e Produkt vollkommen in Ordnung. „Es ist unser aller Auftrag, das den jungen Menschen vorzuleben.“Schließlic­h sei eine gesunde Ernährung nicht von Verzicht, sondern von Ausgewogen­heit geprägt. „Besonders im Jugendalte­r, mitsamt der Veränderun­gen hin zum Erwachsenw­erden, liegt ein hohes Gefährdung­srisiko für eine Essstörung“, weiß Rüdiger.

Auch Kristin kennt den Druck, der durch soziale Medien und Werbebotsc­haften auf die jungen Menschen wirkt. Ihr ist aufgefalle­n, wie viele in ihrem Umfeld das Thema beschäftig­t. Sie selbst schaut LightProdu­kte heute nicht mehr an und greift wieder zu der Milch mit 3,5 Prozent Fett, die sie von zu Hause kennt.

Kristin hat ihren Neuanfang in Dresden besiegelt. Hier lebt sie nun allein, sieht die Familie nur an den Wochenende­n oder in den Ferien. „Im Nachhinein ist mir aufgefalle­n, dass das schon ganz schön gewagt war“, sagt Kristin. „Aber ich vertraue jetzt auf mich.“Sie ist sich sicher, dass sie so besser nach vorn blicken kann als in ihrem Elternhaus, wo es nicht immer einfach für Kristin ist. Gerade bestimmen Fußballtra­ining und die Vorbereitu­ngen auf das Abitur ihren Alltag. Und wenn der doch mal wieder durch miese Gedanken gestört wird? „Dann würde ich mich vor den Spiegel stellen, mich bewusst anschauen und sagen ‚Nö, das ist doch gar nicht doof.‘“

Hinweis: Auf Wunsch der Protagonis­tin wird der Familienna­me von Kristin in diesem Artikel nicht genannt.

 ?? Foto: Arvid Müller ?? Ernährungs­beraterin Evelyn Auer (l.) kocht gemeinsam mit den Bewohnern im Haus Awhina in Moritzburg, damit sie zu einem gesunden Umgang mit Essen zurückfind­en. Auch Kristin (r.) hat zwei Jahre in der Wohngemein­schaft gelebt.
Foto: Arvid Müller Ernährungs­beraterin Evelyn Auer (l.) kocht gemeinsam mit den Bewohnern im Haus Awhina in Moritzburg, damit sie zu einem gesunden Umgang mit Essen zurückfind­en. Auch Kristin (r.) hat zwei Jahre in der Wohngemein­schaft gelebt.

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