Sächsische Zeitung (Döbeln)

Pforten der Hölle

Aufsteiger Seong-Jin Cho lotete bei Ravel und Liszt pianistisc­he Abgründe aus.

- Von Jens-Uwe Sommerschu­h

Am Dienstag feiert er seinen 30. Geburtstag, am Sonnabend spielte er in Dresden im ausverkauf­ten Palais im Großen Garten ein Solorezita­l: Seong-Jin Cho aus Südkorea ist ein Pianist, der seit seinem Ersten Preis 2015 beim renommiert­en Chopin-Wettbewerb in Warschau Schritt für Schritt in die Weltspitze gerückt ist. Seine ersten beiden CDs bei der Deutschen Grammophon waren Chopin gewidmet, und in Dresden verabschie­dete er sich mit Chopin als Zugabe und ließ den Abend mit dessen Nocturne Nr. 2 Es-Dur sensibel ausklingen.

Davor hatte allerdings im Palais, derzeit mit dem Charme einer Baustelle, mehrfach die Luft gebrannt. Das Publikum war zu zwei Dritteln ostasiatis­cher Herkunft, was es so bei den Musikfests­pielen auch noch nie gegeben hat, und es feierte die partiell atemberaub­ende Fingerakro­batik des Jungstars frenetisch. „Scarbo“aus Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“und Franz Liszts Dante-Sonate bildeten die Klammer, mit der er sein technische­s Können im Grenzberei­ch der Spielbarke­it demonstrie­rte. Im gespenstis­chen „Scarbo“entfesselt­e er den zunächst possierlic­hen Spuk zu einem Gruselgewi­tter, und bei „Aprés une lecture de Dante“riss er die Pforten der Hölle auf, womöglich ganz ähnlich, wie das der in jungen Jahren als Tastentige­r berühmte Liszt zelebriert hätte. Doch Cho kann auch ganz weich und feinsinnig agieren, wie er bei Ravels Sonatinen und Liszts Petrarca-Sonetten zeigte.

Bei den insgesamt je sieben Werken der beiden charismati­schen Komponiste­n, die der Schatzkamm­er der Klavierlit­eratur einige funkelnde Diamanten hinterlass­en haben, wurde das Spektrum von Chos Virtuositä­t und Gestaltung­skunst gut erkennbar. Zwischen sanftem Tastenstre­icheln und kernigen Akkordkask­aden oder zwischen forscher Theatralik und sinnlichem Versinken in der Poesie mögen Welten liegen. Bei Seong-Jin Cho fand sich das alles nah beieinande­r. Vielleicht wirkte das partiell ein wenig zu kalkuliert und selbst in den Extremen wohl dosiert, sodass ein Gefühl von Kühle blieb. Ein Erlebnis war dieser Klavierabe­nd so oder so.

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