Wall unter den Wellen
Niemand hatte die Absicht, eine Mauer zu entdecken. Aber da war sie, in 21 Metern Tiefe in der Ostsee. Der Steinwall könnte das älteste von Menschen errichtete Großbauwerk in Europa sein.
Manchmal, wenn auch selten, haben schon Studierende das Glück, bei einer großen Entdeckung dabei zu sein. Wer an der Universität Kiel 2021 sein Praktikum in mariner Geophysik absolvierte, fand sich im September an Bord des Forschungsschiffes „Alkor“wieder. Lehre, nicht unbedingt Forschung, stand auf dem Programm. Doch der Fächersonar brachte in der Mecklenburger Bucht vor dem Ostseebad Rerik eine auffällige Struktur in rund 21 Metern Tiefe auf die Bildschirme.
Um deren Bedeutung zu erkennen, musste man dann aber doch schon fertig studiert haben: „Als ich die farbcodierte Tiefenkarte vor mir hatte, wusste ich sofort, dass wir hier etwas Besonderes haben“, sagt der Meeresgeophysiker Jacob Geersen, der inzwischen am Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde arbeitet.
Ein Jahr später wurden die ersten Aufnahmen mit einer Schleppkamera gemacht. Sie zeigten einen etwa einen Kilometer langen Steinwall. Geersen und der Archäologe Marcel Bradtmöller von der
Universität Rostock halten die mittlerweile „Blinkerwall“getaufte Struktur für eines der ältesten Großbauwerke der Welt – und das früheste seiner Art in Europa. Sie vermuten, dass steinzeitliche Jäger den Wall vor mehr als 10.000 Jahren errichtet haben.
Fast einen Kilometer lang
Er besteht aus fast 1.700 Steinen, ist 971 Meter lang, bis zu zwei Meter breit und meist nicht mal einen Meter hoch. Rentiere hätte man so in eine bestimmte Richtung treiben können, sagt Bradtmöller: „Dafür reichen regelmäßig aufgebaute Steinhaufen, wie sie etwa aus Grönland bekannt sind, oder niedrige, lineare Strukturen wie am Blinkerwall, vollkommen aus.“
In der Fachzeitschrift PNAS berichtet das interdisziplinäre Team aus mehr als einem Dutzend Forschenden – von Geophysikern über Archäologen und Fachleute für Fernerkundung bis zu Denkmalpflegern – nun erstmals über seine Entdeckung.
Dass der Wall anders als durch Menschenhand entstanden sein könnte, halten die Forschenden für nahezu ausgeschlossen. Ein wichtiges Indiz dafür sei, so Geersen, „dass große Findlinge, die eigentlich nicht von Menschen bewegt worden sein können“, durch fast schnurgerade Wälle aus kleineren, tragbaren Brocken aus dem lokalen Geschiebe-Mergel verbunden sind. Das Team schätzt, dass dafür etwa 150 Arbeitsstunden notwendig waren.
Das klingt nicht unbedingt nach viel. Es würde aber zeigen, dass Jäger und Sammler schon vor über 10.000 Jahren komplexe, planungs- und kooperationsintensive Arbeiten routiniert verrichteten. Bradtmöller interpretiert das Bauwerk gar als Hinweis auf die Zusammenarbeit von Gemeinschaften, die sonst getrennte Wege gingen: „Eine Nutzung als Jagdstruktur ist am besten denkbar im Kontext von jährlichen Treffen größerer Gruppen, die sowohl die Jagd durchführen konnten, als auch durch die gejagten Tiere ernährt wurden.“
Überraschend wäre dann aber, dass es offenbar nur einen Wall gab und nicht zwei, zwischen denen die Tiere wie in einen Trichter getrieben worden wären, wie bei Treibjagden üblich. Das könnte aber auch daran liegen, dass ein zweiter gar nicht nötig war. Denn der Blinkerwall befand sich zum Zeitpunkt seiner Nutzung mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr nahe am Ufer eines Sees. Dieses hätte dann als zweite Begrenzung gedient, sagt Geersen.
Dass der Wall älter als 10.000 Jahre sein muss, schließen die Forschenden daraus, dass das Gebiet später zunehmend bewaldet war. Für die Jagd auf Huftiere, die sich in offenem Gelände bewegen, wäre er dort nicht sinnvoll gewesen. Bis er schließlich in der Ostsee versank, dauerte es noch etwa anderthalb Jahrtausende.
Die Erforschung soll dieses Jahr weitergehen. „Wir hatten bei ein paar Tauchgängen bisher viel Pech mit Wind und Wetter“, sagt Geersen. Er hofft auf Funde von Speer- oder Pfeilspitzen oder Tierknochen mit Bearbeitungsspuren.
Was für all das derzeit noch fehlt, ist allerdings die nötige Finanzierung.