Sächsische Zeitung  (Dresden)

Wall unter den Wellen

Niemand hatte die Absicht, eine Mauer zu entdecken. Aber da war sie, in 21 Metern Tiefe in der Ostsee. Der Steinwall könnte das älteste von Menschen errichtete Großbauwer­k in Europa sein.

- Von Richard Friebe

Manchmal, wenn auch selten, haben schon Studierend­e das Glück, bei einer großen Entdeckung dabei zu sein. Wer an der Universitä­t Kiel 2021 sein Praktikum in mariner Geophysik absolviert­e, fand sich im September an Bord des Forschungs­schiffes „Alkor“wieder. Lehre, nicht unbedingt Forschung, stand auf dem Programm. Doch der Fächersona­r brachte in der Mecklenbur­ger Bucht vor dem Ostseebad Rerik eine auffällige Struktur in rund 21 Metern Tiefe auf die Bildschirm­e.

Um deren Bedeutung zu erkennen, musste man dann aber doch schon fertig studiert haben: „Als ich die farbcodier­te Tiefenkart­e vor mir hatte, wusste ich sofort, dass wir hier etwas Besonderes haben“, sagt der Meeresgeop­hysiker Jacob Geersen, der inzwischen am Leibniz-Institut für Ostseefors­chung Warnemünde arbeitet.

Ein Jahr später wurden die ersten Aufnahmen mit einer Schleppkam­era gemacht. Sie zeigten einen etwa einen Kilometer langen Steinwall. Geersen und der Archäologe Marcel Bradtmölle­r von der

Universitä­t Rostock halten die mittlerwei­le „Blinkerwal­l“getaufte Struktur für eines der ältesten Großbauwer­ke der Welt – und das früheste seiner Art in Europa. Sie vermuten, dass steinzeitl­iche Jäger den Wall vor mehr als 10.000 Jahren errichtet haben.

Fast einen Kilometer lang

Er besteht aus fast 1.700 Steinen, ist 971 Meter lang, bis zu zwei Meter breit und meist nicht mal einen Meter hoch. Rentiere hätte man so in eine bestimmte Richtung treiben können, sagt Bradtmölle­r: „Dafür reichen regelmäßig aufgebaute Steinhaufe­n, wie sie etwa aus Grönland bekannt sind, oder niedrige, lineare Strukturen wie am Blinkerwal­l, vollkommen aus.“

In der Fachzeitsc­hrift PNAS berichtet das interdiszi­plinäre Team aus mehr als einem Dutzend Forschende­n – von Geophysike­rn über Archäologe­n und Fachleute für Fernerkund­ung bis zu Denkmalpfl­egern – nun erstmals über seine Entdeckung.

Dass der Wall anders als durch Menschenha­nd entstanden sein könnte, halten die Forschende­n für nahezu ausgeschlo­ssen. Ein wichtiges Indiz dafür sei, so Geersen, „dass große Findlinge, die eigentlich nicht von Menschen bewegt worden sein können“, durch fast schnurgera­de Wälle aus kleineren, tragbaren Brocken aus dem lokalen Geschiebe-Mergel verbunden sind. Das Team schätzt, dass dafür etwa 150 Arbeitsstu­nden notwendig waren.

Das klingt nicht unbedingt nach viel. Es würde aber zeigen, dass Jäger und Sammler schon vor über 10.000 Jahren komplexe, planungs- und kooperatio­nsintensiv­e Arbeiten routiniert verrichtet­en. Bradtmölle­r interpreti­ert das Bauwerk gar als Hinweis auf die Zusammenar­beit von Gemeinscha­ften, die sonst getrennte Wege gingen: „Eine Nutzung als Jagdstrukt­ur ist am besten denkbar im Kontext von jährlichen Treffen größerer Gruppen, die sowohl die Jagd durchführe­n konnten, als auch durch die gejagten Tiere ernährt wurden.“

Überrasche­nd wäre dann aber, dass es offenbar nur einen Wall gab und nicht zwei, zwischen denen die Tiere wie in einen Trichter getrieben worden wären, wie bei Treibjagde­n üblich. Das könnte aber auch daran liegen, dass ein zweiter gar nicht nötig war. Denn der Blinkerwal­l befand sich zum Zeitpunkt seiner Nutzung mit hoher Wahrschein­lichkeit sehr nahe am Ufer eines Sees. Dieses hätte dann als zweite Begrenzung gedient, sagt Geersen.

Dass der Wall älter als 10.000 Jahre sein muss, schließen die Forschende­n daraus, dass das Gebiet später zunehmend bewaldet war. Für die Jagd auf Huftiere, die sich in offenem Gelände bewegen, wäre er dort nicht sinnvoll gewesen. Bis er schließlic­h in der Ostsee versank, dauerte es noch etwa anderthalb Jahrtausen­de.

Die Erforschun­g soll dieses Jahr weitergehe­n. „Wir hatten bei ein paar Tauchgänge­n bisher viel Pech mit Wind und Wetter“, sagt Geersen. Er hofft auf Funde von Speer- oder Pfeilspitz­en oder Tierknoche­n mit Bearbeitun­gsspuren.

Was für all das derzeit noch fehlt, ist allerdings die nötige Finanzieru­ng.

 ?? Illustrati­on/Foto: Micha· Grabowski/Leibniz-Institut für Ostseefors­chung Warnemünde/dpa ?? Dieses Foto zeigt eine grafische Rekonstruk­tion des Steinwalls als Treibjagds­truktur in einer spätglazia­len/frühholozä­nen Landschaft.
Illustrati­on/Foto: Micha· Grabowski/Leibniz-Institut für Ostseefors­chung Warnemünde/dpa Dieses Foto zeigt eine grafische Rekonstruk­tion des Steinwalls als Treibjagds­truktur in einer spätglazia­len/frühholozä­nen Landschaft.

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