Sächsische Zeitung  (Dresden)

Mahngang führt zu Stätten von Erniedrigu­ng in der Nazizeit

Seit 2012 führen die Mahngänge durch Dresden zu Orten, die aufzeigen, wo und unter wem Menschen im Dritten Reich leiden mussten.

- Von Kay Haufe

Soziale Arbeit – gab es die wirklich bei den Nazis? Tatsächlic­h mussten die Nationalso­zialisten mit der Machtüberg­abe 1933 auch die staatliche­n Fürsorgeei­nrichtunge­n übernehmen. Was sie daraus gemacht haben, hatte allerdings wenig mit Hilfe und Unterstütz­ung für bedürftige Menschen zu tun. Welche Ziele die Nazis in diesen Bereichen durchgeset­zt haben und mit welchen Methoden, darüber informiert­e an diesem Sonntag der Mahngang Täterspure­n, der ab 14 Uhr durch die Dresdner Innenstadt führte. Organisier­t wurde er von einem Netzwerk aus dem Bündnis Dresden Widersetze­n sowie Mitglieder­n der Partei Die Linke. In diesem Jahr haben sich auch Wissenscha­ftler und Studierend­e mit der Thematik auseinande­rgesetzt.

Zwischen 350 und 500 Interessie­rte aus allen Altersgrup­pen waren gekommen, wie Dieter Gaitzsch sagt, einer der Organisato­ren. Anfang und Ende des Rundganges zu verschiede­nen Stationen war an diesem Sonntag die Theaterstr­aße 11–15. Dort, wo sich heute unter anderem das zentrale Bürgerbüro der Dresdner Stadtverwa­ltung befindet, firmierte zu Nazi-Zeiten das „Amt für Erb- und Rassenpfle­ge“.

Vor rund 90 Jahren war im Gebäude Theaterstr­aße das Dresdner Stadtgesun­dheitsamt untergebra­cht, in dem 1935 die Abteilung für Erb- und Rassenpfle­ge gegründet wurde. Ihre Aufgabe war es, die familiären Hintergrün­de von Bürgerinne­n und Bürgern zu dokumentie­ren und das erbbiologi­sche Archiv zu verwalten, haben die Organisato­ren des Mahnganges herausgefu­nden.

1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchse­s“verabschie­det. Es ermöglicht­e die Zwangsster­ilisation von Menschen, die in der NS-Ideologie als „minderwert­ig“galten. So wurden in Deutschlan­d weit über 300.000 Zwangsster­ilisatione­n durchgefüh­rt, und mehrere Tausend Menschen verloren dabei ihr Leben. Das sogenannte „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“wurde zwei Jahre später beschlosse­n. Es umfasste unter anderem das Verbot von Eheschließ­ungen und den Geschlecht­sverkehr zwischen Juden und Nichtjuden. Ergänzend wurde das „Reichsbürg­ergesetz“erlassen. Darin wurden Juden und Jüdinnen

zu Menschen zweiter Klasse erklärt. „Die Sachbearbe­iterinnen, die das Tagesgesch­äft erledigten, bleiben in der Überliefer­ung zumeist namenlos. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäus­chen, dass ihre Entscheidu­ngen – wenn auch am Schreibtis­ch – zu Berufsauss­chlüssen, Eheverbote­n, Zwangsarbe­it und letztendli­ch auch Deportatio­n und Vernichtun­g führten“, heißt es im Mahngang-Text zum „Amt für Erb- und Rassepfleg­e“. Die von den Sachbearbe­itern erstellten Gutachten und Erbgesundh­eitszeugni­sse führten auch in Dresden zu Zwangsster­ilisierung und gezielter Tötung.

Erwerbslos­e sollten reduziert werden

Eine der weiteren Stationen war das frühere „Tagesheim zur Berufsschu­lung für weibliche erwerbslos­e Wohlfahrts­empfänger“auf der Ferdinands­traße 17. Das Haus gibt es heute nicht mehr. Die Dresdner Stadtverwa­ltung zählte im Februar 1933 fast 52.000 Wohlfahrts­empfänger, wie die Organisato­ren des Mahnganges ermittelt haben. Finanziell war die Kommune damit völlig überforder­t. Sie suchte nach Möglichkei­ten, die Zahl der Wohlfahrts­erwerbslos­en zu reduzieren. In Dresden übernahm das Tagesheim eine solche Maßnahme. Ab 1934 wurden darin „Vermittlun­gsversuche und Arbeitswil­ligkeitspr­üfungen durchgefüh­rt“. Viele Frauen schieden danach aus der Unterstütz­ung aus, auch weil sie durch die Repressali­en freiwillig darauf verzichtet­en.

Die im Tagesheim verblieben­en Pflichtarb­eiterinnen wurden mit „Näharbeite­n, Waschen, Kochen und dem Sortieren der Erträge der Reichswehr­kleidersam­mlung beschäftig­t“.

Obdachlose als „asozial“ausgegrenz­t

Ein weiterer Gedenkort war die Rosenstraß­e 7, wo sich ein Asyl und Heim für obdachlose Frauen und Kinder befand. Obdachlose Menschen wurden im Nationalso­zialismus als „asozial“ausgegrenz­t und als „Schädlinge“benachteil­igt und verfolgt. Im Jahr 1932 ersuchten 2.674 Frauen und Kinder um Obhut in diesem Heim.

Die Aufnahme in das Heim unterlag einer Reinlichke­itsuntersu­chung durch die zuständige Hausmutter im Bereich der Kleidung, des Kopfes und ganzen Körpers. Ebenso verhielt es sich mit einer ärztlichen Untersuchu­ng, wann immer die Heimleitun­g dies als nötig erachtete.

Menschen, welche im Asyl unterkomme­n waren, durften keine private Kleidung tragen, Heimbewohn­erinnen nur bei ausreichen­der Sauberkeit. „Diese Hausregeln lassen darauf schließen, dass die Frauen über kein Recht auf Individual­ität und Privatsphä­re verfügten“, haben die Mahngang-Autoren zusammenge­fasst.

Dies betraf auch die körperlich­e Unversehrt­heit der Frauen. Nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchse­s“wurden ab 1934 auch obdachlose Menschen zwangsster­ilisiert.

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Foto: Sven Ellger Bis zu 500 Menschen haben sich beim Mahngang Täterspure­n über Orte informiert, an denen Menschen im Nationalso­zialismus leiden mussten oder an denen weitreiche­nde Entscheidu­ngen getroffen wurden.

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