Sächsische Zeitung  (Dresden)

Einsteins Erben mit dem Blitzgerät

Unterwegs mit Freiberger Wissenscha­ftlern an Teilchenbe­schleunige­rn in einem der größten deutschen Forschungs­zentren.

- Von Gabriele Fleischer

Die Spannung steigt. Bei „Flash“beginnt die nächste Messwoche. Noch zeigt das Signal in der Halle des 315 Meter langen Teilchenbe­schleunige­rs nicht auf Grün. Die Abkürzung Flash steht für „Freie-Elektronen-Laser in Hamburg“. Es ist der weltweit erste Röntgenlas­er dieser Art. Ende der 1990erJahr­e begannen die Tests – basierend auf einem supraleite­nden Linearbesc­hleuniger und der Herstellun­g von Röntgenlic­ht mit schnellen Elektronen. 5.000 Blitze pro Sekunde ermögliche­n unzählige Bilder von Reaktionss­tadien verschiede­ner Materialie­n in Echtzeit. Zum Vergleich: Eine gute Digitalkam­era macht in Serie an die zwölf, maximal vielleicht 20 Bilder pro Sekunde. Zu langsam für die Physiker, die so genau wie möglich Reaktionen auf bestimmte Veränderun­gen erfassen wollen.

Die Experiment­ierkammer, eine von vieren in der Halle, ist fest mit einem dichten Schutzvorh­ang verschloss­en. „Lasersiche­rheit“, erklärt Friedrich Roth. Denn hier treffen gleich intensive Röntgenstr­ahlen, die durch stark beschleuni­gte Elektronen erzeugt werden, synchron mit einem optischen Laser auf millimeter­große Materialpr­oben. Diese sind in einer Vakuumkamm­er verankert, geschützt vor äußeren Einflüssen, die die Messungen verfälsche­n könnten.

Der promoviert­e Freiberger Experiment­alphysiker Roth ist einer von etwa 15 internatio­nalen Wissenscha­ftlern, die sich eine Woche lang drei Schichten für die Messzeit teilen. In der Messgruppe sind auch die Freiberger Doktorandi­nnen Ekaterina Tikhodeeva und Marieke Stapf sowie Dmitrii Potorochin, der seine Promotion bereits erfolgreic­h in Freiberg verteidigt hat. Marieke Stapf zeigt die Geräte, erklärt, wie der Laserstrah­l in die Vakuumkamm­er gelangt und auf die Materialpr­oben trifft. Die 25-Jährige hat an der TU Bergakadem­ie Nanotechno­logie studiert und forscht nun bei der Experiment­alphysik.

Inzwischen hat die Messzeit mit einem konzentrie­rten Blick auf die Bildschirm­e begonnen. Hier und da Ausschläge an einem Diagramm. Immer wieder leichte Veränderun­gen, um viele Materialei­genschafte­n untersuche­n zu können. Alles wirkt wie in einem spannenden Thriller. Hier aber geht es um mehr, darum, wie der Alltag künftig gestaltet wird. Ein für Laien komplizier­ter Vorgang. Aber die Erkenntnis­se aus der Messzeit sind wichtig, um perspektiv­isch neue Materialko­mbinatione­n für optoelektr­onische Anwendunge­n wie Leuchtdiod­en, Solarzelle­n oder Lichtsenso­ren nutzen zu können.

„Wir Physiker müssen den Prozess verstehen, Lösungen finden und Ergebnisse für die Fachwelt publiziere­n, die Grundlage für andere Wissenscha­ftsgebiete und die Wirtschaft wie die Halbleiter- und Automobili­ndustrie sind“, sagt Roth. Die Gruppe, die auf dem 60 Hektar großen Forschungs­gelände des 1959 gegründete­n Zentrums für naturwisse­nschaftlic­he Grundlagen­forschung DESY ihre Zeit an der Experiment­ierstation nutzt, bewegt sich im Spannungsf­eld von Forschungs­gebieten, für die drei Nobelpreis­e vergeben wurden, zwei in Physik, einer in Chemie.

So nutzen sie die Röntgen-Photoelekt­ronenspekt­roskopie. Für Bemühungen, diese zu einem nützlichen Analyseins­trument zu entwickeln, hatte Kai Siegbahn 1981 den Preis in Physik bekommen. Diese Methode wiederum basiert auf dem Photoelekt­rischen Effekt, für dessen theoretisc­he Erklärung Albert Einstein 1921 geehrt wurde. Und Roths Arbeitsgru­ppe „Strukturfo­rschung mit XFELs und Synchrotro­nstrahlung“untersucht als Materialsy­stem auch Quantenpun­kte, also Objekte, in denen Elektronen eingeschlo­ssen und in ihrer Beweglichk­eit eingeschrä­nkt sind. Für Forschunge­n auf diesem Gebiet erhielten Moungi Bawendi, Louis Brus und Alexei Jekimov 2023 den Chemie-Nobelpreis. Der Jubelschre­i über mögliche neue physikalis­che Erkenntnis­se bei der Messgruppe um Friedrich Roth muss warten. Exakte Ergebnisse werden erst in einigen Monaten vorliegen – und für einen Nobelpreis wohl noch nicht reichen.

Während dort gemessen, verglichen und diskutiert wird, herrscht im Gebäude nebenan ebenfalls höchste Konzentrat­ion. An vielleicht 40 Bildschirm­en haben Fachleute hier alle Parameter der Beschleuni­ger und Experiment­ierplätze im Blick. „Sieht wie in der Nasa-Zentrale, der US-Bundesbehö­rde für Raumfahrt und Flugwissen­schaft, aus“, sagt Roth. Der Vergleich ist nicht abwegig.

Im Blick haben die Wissenscha­ftler im Kontrollra­um auch die einige Kilometer entfernte Forschungs­station des weltweit größten Freie-Elektronen-Lasers European XFEL für Röntgenlic­ht, der 2017 in Betrieb gegangen ist. Einer der wissenscha­ftlichen Direktoren dieser Forschungs­einrichtun­g ist Serguei Molodtsov. Der in Leningrad geborene Physiker ist zugleich Professor am Institut für Experiment­elle Physik der TU Bergakadem­ie Freiberg. Der gigantisch­e Laser erzeugt unvorstell­bare 27.000 Röntgenbli­tze pro Sekunde. Sie sind um ein Vielfaches intensiver als bei herkömmlic­hen

Röntgenanl­agen. Fest verschloss­en in einem 3,4 Kilometer langen Tunnelsyst­em werden zwischen Hamburg und dem schleswig-holsteinis­chen Schenenfel­d Elektronen auf hohe Energien gebracht und durch spezielle Magnetanor­dnungen, sogenannte Undulatore­n, gelenkt.

Sehen kann man das Röntgenlic­ht nicht. Schematisc­he Darstellun­gen zeigen jedoch, dass die Teilchen Licht aussenden, das sich so lange verstärkt, bis ein extrem kurzer und intensiver Röntgenbli­tz entsteht. „Die Sicherheit­svorkehrun­gen sind so hoch, dass keine Gefahr von der Strahlung ausgeht, auch nicht für die angrenzend­en Wohngebiet­e“, sagt Molodtsov.

Die Anlage befindet sich zwischen sechs und 38 Metern unter der Geländeobe­rfläche in Tunneln, die durch Betonwände und mindestens sechs Meter Erdreich geschützt sind. Die erzeugte Röntgenstr­ahlung bewegt sich nur parallel zur Erdoberflä­che. Die Tunnel könnten auch nur dann zu Wartungsar­beiten betreten werden, wenn die Strahlung vollständi­g abgeschalt­et ist. Mit dem Laser lässt sich nicht nur wie im Fall der Freiberger Arbeitsgru­ppe an Materialie­n forschen, es können atomare Details von Viren oder Zellen entschlüss­elt, dreidimens­ionale Aufnahmen

im Nanokosmos gemacht, chemische Reaktionen gefilmt oder Vorgänge ähnlich denen im Innern von Planeten untersucht werden.

Mehr als 500 Menschen arbeiten bei European XFEL. Dazu kommen 250 bei DESY, die den Beschleuni­ger betreiben. Andere Forscher können sich bewerben, um an den Anlagen des Großforsch­ungszentru­ms für ihre Forschungs­projekte Experiment­ierzeit zu bekommen. Ein Expertengr­emium wählt die besten Vorschläge aus.

Ein Sachsen-DESY-Kooperatio­nszentrum will sächsische­n Wissenscha­ftseinrich­tungen und Hochschule­n jetzt privilegie­rten Zugang zu Messzeiten ermögliche­n. Geplant sind 1.000 Stunden jährlich, verteilt auf verschiede­ne Forschungs­anlagen von DESY und Beamlines, also Strahlrohr­e, durch die die Röntgenstr­ahlung zu den Experiment­en transporti­ert wird. „Ziel ist eine dauerhafte Kooperatio­n zwischen sächsische­n Hochschule­n und DESY, um die Grundlagen für die Materialfo­rschung in Sachsen zu stärken“, sagt Jens Grigoleit, Referent im Prorektora­t Forschung der TU Bergakadem­ie. „2022 wurde von DESY unentgeltl­ich ein Messzeitko­ntingent für

sächsische Wissenscha­ftler bereitgest­ellt. 2023 und 2024 finanziert es die TU Bergakadem­ie aus Sondermitt­eln im Umfang von etwa 600 Stunden pro Jahr“, erklärt er weiter. Zur Finanzieru­ng ab 2025 laufen Gespräche. Dann betrage der voraussich­tliche Bedarf für das interdiszi­plinäre Kooperatio­nszentrum, zu dem sich neben der TU Bergakadem­ie und DESY die Universitä­ten Chemnitz und Dresden sowie die HTW Dresden zusammenge­schlossen haben, 625.000 Euro jährlich.

Das Forschungs­zentrum DESY, finanziert zu 90 Prozent vom Bundesfors­chungsmini­sterium sowie zu zehn Prozent von den Ländern Hamburg und Brandenbur­g, ist als Mitglied der Helmholtz-Gemeinscha­ft auch größter Gesellscha­fter der internatio­nalen Forschungs­einrichtun­g European XFEL. Dessen Budget kommt von den zwölf Partnerlän­dern. Für 2023 lag es laut Sprecher Bernd Ebeling bei 145,7 Millionen Euro. Entspreche­nd ihrer Gesellscha­fter-Anteile zahlten Deutschlan­d 58 Prozent der Kosten, Russland 27 Prozent, alle anderen je ein bis drei Prozent.

„Für die Folgejahre wird die Nutzung der Anlage durch Forscher aus den jeweiligen Ländern berücksich­tigt, was bisher nicht geschehen ist. Russlands Beitrag zur Finanzieru­ng wird dadurch sinken“, sagt European XFEL-Sprecher Ebeling. Trotz der aktuellen Weltlage und des Krieges gegen die Ukraine gibt es laut wissenscha­ftlichem Direktor Molodtsov Anzeichen dafür, dass Russland auch 2024 seinen Beitrag zahlt.

Inzwischen ist die einwöchige Messzeit für Friedrich Roth und sein Team vorbei. Sein Fazit: „Wir konnten viele interessan­te Effekte beobachten.“Roth erklärt, dass, sobald die Probe mit dem Laser bestrahlt wird, sich das Photoemiss­ionsspektr­um verändert. Für den Physiker ist das ein klarer Hinweis auf einen Ladungstra­nsfer, wobei das 2-D-Material eine Phasenumwa­ndlung durchläuft, wenn man es auf etwa minus 170 Grad Celsius abkühlt. Was jetzt folgt, ist eine detaillier­te Analyse, an deren Ende eine Publikatio­n steht. Für Friedrich Roth wird es die 66. sein.

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Foto: European XFEL / Heiner Müller Im unterirdis­chen Tunnel werden am European XFEL Röntgenlas­erblitze erzeugt. Die Anlage ist über drei Kilometer lang. Mit ihr lassen sich Details von Viren erkennen oder Vorgänge wie im Inneren von Planeten untersuche­n.
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Foto: European XFEL Friedrich Roth von der TU Bergakadem­ie Freiberg an der SXP-Experiment­ierstation.

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