Sächsische Zeitung  (Dresden)

Weshalb Dresden gegen Einschränk­ungen auch bei Neonazi-Aufmärsche­n ist

Nachdem am 11. Februar viel mehr Gegner als Neonazis in Dresden demonstrie­rten, gibt es eine Debatte über den Weg, rechte Aufmärsche einzudämme­n.

- Von Andreas Weller

Jetzt sind die Zahlen amtlich: Rund 4.800 Menschen stellten sich am 11. Februar dem Aufmarsch von Neonazis – mit rund 940 Teilnehmen­den – in Dresden entgegen. Obwohl die Gegner viel mehr waren, haben die Dresdner Ordnungsbe­hörden deren Grundrecht­e eingeschrä­nkt, lautet die Kritik. Wie die für Ordnung zuständige Bürgermeis­terin Eve Jähnigen (Grüne) das Agieren der Stadt begründet und welche weitere Kritik es daran gibt.

? Wie liefen die Demonstrat­ionen an jenem Tag ab?

Dem alljährlic­hen Neonazi-Aufmarsch in Dresden haben sich in diesem Jahr deutlich mehr Dresdnerin­nen und Dresdner entgegenge­stellt. Knapp 5.000 Menschen aus einem breiten Spektrum nahmen daran teil. Auch Oberbürger­meister Dirk Hilbert (FDP), die Bürgermeis­terinnen Jähnigen und Annekatrin Klepsch (Linke, Kultur) waren dabei. In Absprache mit der Versammlun­gsbehörde der Stadt setzte die Polizei eine strikte Trennung der Lager durch.

? Wie groß war der Aufwand?

Um die Demonstrat­ionen abzusicher­n, waren an dem Tag 1.873 Polizeibea­mte im Einsatz, davon 940 aus Sachsen – knapp die Hälfte wurde aus anderen Bundesländ­ern angeforder­t. Außerdem hatte die Polizei einen Hubschraub­er, zwei Wasserwerf­er, einen Sonderwage­n, zwei Lichtmastk­raftwagen (mit ausfahrbar­en Scheinwerf­ern), drei Lautsprech­erkraftwag­en, zwei Toilettenw­agen und zwei Bildübertr­agungswage­n im Einsatz. Diese Zahlen gehen aus der Antwort auf eine Anfrage von SPD-Stadtrat Vincent Drews hervor.

? Wie lange war die Dresdner Innenstadt gesperrt?

Auch das wird in der Antwort aufgeliste­t. Gesperrt waren die Straßen Am Hauptbahnh­of in Richtung Zentrum, Hochschul

straße, Strehlener Straße, Andreas-Schuberth-Straße, Uhlandstra­ße, Franklinst­raße/Gellertstr­aße, Wiener Straße, St.-Petersburg­er-Straße, Bürgerwies­e/Parkstraße, Zinzendorf­straße und Blüherstra­ße - dieser Bereich sogar ab 10.35 Uhr für fünf Stunden komplett. Die Kreuzung Strehler Straße/Friedrich-List-Platz wurde sogar erst um 17.27 Uhr wieder freigegebe­n. Für die Sperrungen wurden 1.320 Gitter verwendet – die jeweils drei Meter lang sind.

? Was für Kritik und welche Forderunge­n gibt es dazu?

Da wie in diesem Fall aufgrund der Anmeldunge­n und angegeben Teilnehmen­denzahlen der Veranstalt­er absehbar war, dass der Gegenprote­st deutlich mehr Menschen anzieht als die sogenannte Anlassvers­ammlung, also hier der Neonazi-Aufzug, könne die Stadt der kleineren Versammlun­g Auflagen erteilen. Das sagt der ehemalige Dresdner Finanzbürg­ermeister Peter Lames (SPD), der die SPD-Fraktion in juristisch­en Fragen berät. Lames ist wieder Vorsitzend­er Richter am Oberlandes­gericht Dresden.

Solche Auflagen könnten etwa daraus bestehen, die Versammlun­g rein stationär abzuhalten oder die Route deutlich zu verkürzen. Laut Richter Lames, der erneut für den Stadtrat kandidiert, gibt es keinen Vorrang für eine Kundgebung. Für alle gelte

das Grundrecht auf Versammlun­gsfreiheit. Das bedeute aber auch, dass der Gegenprote­st nicht zweitrangi­g behandelt werden darf. Da dieser deutlich größer ausgefalle­n ist als sonst, hätte die Versammlun­gsbehörde darauf reagieren und ein ausgewogen­es Verhältnis herstellen müssen.

? Wie reagiert die Stadt darauf ?

Bürgermeis­terin Jähnigen nehme die Ausführung­en von Lames zur Kenntnis, so die Stadt Dresden auf Anfrage. Würden Entscheidu­ngen zu Ort, Zeit und Form im Versammlun­gsrecht aufgrund der Anzahl der Teilnehmer­zahlen getroffen werden, könnten Minderheit­en in der Ausgestalt­ung ihrer Versammlun­g derart eingeschrä­nkt werden, dass deren Versammlun­g unmöglich gemacht würden, heißt es dazu. „Faktisch könnte entspreche­nd eine prognostiz­ierte Versammlun­g eine andere, missliebig­e, Versammlun­g verdrängen. Im Lichte der Meinungs- und Versammlun­gsfreiheit muss dies jedoch als verfassung­srechtlich äußerst bedenklich angesehen werden.“

Eine Beschränku­ng oder ein Verbot des Aufmarschs von Neonazis wäre nur möglich, wenn davon eine Gefahr für die öffentlich­e Sicherheit und Ordnung ausgehen würde. „Das Hervorrufe­n eines breiten Gegenprote­sts ist hierfür allerdings nicht ausreichen­d. Eine Verdrängun­g oder Beschränku­ng aufgrund einer höheren Teilnehmer­zahl der Gegenversa­mmlung würde in das Selbstgest­altungsrec­ht der Anlassvers­ammlung eingreifen und wäre mithin nicht rechtmäßig gewesen.“

? Wurden die Gegner zu weit weg gehalten?

Auch zu der Kritik, die Gegner seien durch die Absperrung­en sehr weit von den Neonazis weggehalte­n worden, äußert sich der Bereich von Jähnigen. „Die Hör- und Sichtweite ist kein festes Maß und muss sich stets an den örtlichen Gegebenhei­ten, der Gefährdung­sprognose und der Form der Anlassvers­ammlung orientiere­n. Die Durchführu­ng des Gegenprote­sts in Hörund Sichtweite ist dann erfüllt, wenn die Anlassvers­ammlung den Gegenprote­st hör- und sichtbar wahrnehmen kann.“Eine Gegenversa­mmlung suche immer die Nähe zur Anlassvers­ammlung. „Treten örtliche und zeitliche Kollisione­n auf, hat die Versammlun­gsbehörde die widerstrei­tenden Interessen in Ausgleich zu bringen. Dabei kann das Versammlun­gsrecht der Anlassvers­ammlung letztlich nicht zur Dispositio­n des Gegenprote­sts gestellt werden, wenn die Ortswahl oder die gewählten Kundgabemi­ttel der Gegenversa­mmlung maßgeblich den Zweck verfolgen, störend auf die Anlassvers­ammlung einzuwirke­n.“

? Werden in Dresden Grundrecht­e eingeschrä­nkt?

„Es greift zu kurz, die eine Kundgebung als Maß aller Dinge zu betrachten, für sie über Stunden weite Teile des Stadtgebie­ts abzusperre­n und Tausende friedliche­r Bürgerinne­n und Bürger nur als Gegner und potenziell­e Störer wahrzunehm­en“, so Lames.

Die Menschen, die er dort getroffen habe, seien für etwas auf der Straße gewesen. „Für Demokratie, Menschenfr­eundlichke­it, Frieden und Versöhnung unter den Völkern. Ihre Grundrecht­e werden in der Dresdner Praxis unter Verantwort­ung einer grünen Ordnungsbü­rgermeiste­rin und eines liberalen Oberbürger­meisters massiv eingeschrä­nkt.“Es gebe keine einfachen Lösungen, aber erhebliche­n Gesprächsb­edarf. „Es ist bedauerlic­h, dass nicht einmal der gesehen wird. Aber die Diskussion wird weitergehe­n. Auch bei der Beurteilun­g im Kern rechtliche­r Fragen muss der gesunde Menschenve­rstand eine entscheide­nde Rolle spielen.“

 ?? Foto: Rene Meinig ?? Rund 4.800 Menschen demonstrie­rten im Februar gegen einen Aufmarsch von deutlich weniger Neonazis. Der Umgang damit sorgt für Debatten.
Foto: Rene Meinig Rund 4.800 Menschen demonstrie­rten im Februar gegen einen Aufmarsch von deutlich weniger Neonazis. Der Umgang damit sorgt für Debatten.

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