Mehr als Essen
Fastet ihr eigentlich auch? So fragte mich jemand am Tisch der Familie, bei der ich zu Gast war. Das geschah vor Kurzem im muslimischen Fastenmonat Ramadan, der diese Woche zu Ende gegangen ist. Alle hatten tagsüber weder gegessen noch getrunken. Mit Beginn der Dunkelheit versammelte sich die ganze Familie zum gemeinsamen Abendbrot. Jetzt war die Zeit für das Fastenbrechen.
An jedem Tag im Ramadan gibt es eine ganz genaue Zeit für das Ende des Fastens. Sie wird für jeden Ort auf der Erde und jeden Tag exakt berechnet. Ist das wirklich so wichtig? Und ist das denn gesund? Diese Frage geht am Thema vorbei. Das Fasten und das Fastenbrechen verbinden. Überall dort, wo Muslime leben, geschieht das in gleicher Weise: Man kommt zusammen. Gern lädt man sich Gäste ein. Es können auch Menschen sein, die keine Muslime sind. Gastfreundschaft geht über die eigene Gemeinschaft hinaus. Das Fastenbrechen gehört zu den wichtigen Ritualen im Islam.
Fastet ihr eigentlich auch? Diese Frage war an mich als Christ gerichtet und sie war ernst gemeint. Es war echte Neugier und sie hat mich in Verlegenheit gebracht. Ich konnte sie nicht so leicht mit Ja oder Nein beantworten. Natürlich gibt es im Christentum auch eine Fastentradition. Die Zeit von Aschermittwoch bis Ostersonntag ist vielleicht am bekanntesten und wird von vielen Menschen als Gelegenheit aufgegriffen, einmal auf etwas ganz Bestimmtes zu verzichten. Manche verzichten in dieser Zeit auf Alkohol, Kaffee, Schokolade oder Süßes überhaupt. Aber das ist nicht unbedingt eine Glaubensfrage. Dass auch die Zeit vor Weihnachten, die Adventszeit, früher einmal eine Fastenzeit war, wissen nur wenige Menschen.
Fastet ihr eigentlich auch? Diese Frage war keine historische Frage. Sie war eine Frage nach der Art, wie wir leben. Ich habe vor allem gehört: Wie lebt ihr eure Traditionen? Was verbindet euch und hält euch zusammen? Ich dachte zuerst an unser zentrales christliches Gemeinschaftsritual, den sonntäglichen Gottesdienst. Dass er nicht von allen Christinnen und Christen besucht wird, ist kein Geheimnis. Die Musik, die Liturgie und ihre Sprache sind vielen fremd geworden. Aber auch dort, wo Gottesdienste an die Popkultur angepasst werden, sprechen sie nicht alle an. Grundsätzlich scheint es schwer zu fallen, Gemeinschaft so wertzuschätzen, dass die eigenen Erlebnisansprüche in den Hintergrund treten.
Die Frage meines Gastgebers geht für mich über die eigene christliche Gemeinde hinaus. Welche Rituale verbinden uns – als Familie, als Einwohner einer Stadt, als Gesellschaft? Am Ende des Abends fühlte ich, dass ich sehr gut und reichhaltig gegessen hatte. Aber das ist nicht das Wesentliche.