Sächsische Zeitung  (Dresden)

„Am schlimmste­n war die Angst“

- Von Nadja Laske

SWährend das Publikum Spaß hat, bangt der Travestie-Künstler Thomas Rademacher alias Stefanie Colbert im Carte Blanche um sein Leben – und das Ensemble um ihn.

tefanie Colbert ist zurück. Er sitzt im Kreis seiner Engsten im Hof des Travestie-Revue-Theaters Carte Blanche und spricht über das Erlebte. In Wirklichke­it heißt er Thomas. Doch die opulente, witzige, unterhalts­ame Lady zu sein, als die ihn sein Publikum kennt und liebt, ist ihm beinahe wichtiger als der Mann dahinter.

Der hat unlängst das wohl Schlimmste erfahren, was einem Menschen passieren kann: Ohnmacht und Todesangst - und die Sorge, alles zu verlieren, was ihm im Leben lieb und teuer ist. An erster Stelle steht da seine Arbeit als Travestiek­ünstler. Thomas Rademacher erlitt während der Vorstellun­g einen Schlaganfa­ll.

Grell geschminkt in glitzernde­n Kleidern und hochhackig­en Schuhen erscheint er fast jeden Abend auf der Bühne. Seit Jahrzehnte­n moderiert er Shows als Conferenci­er, parodiert Stars im Rampenlich­t und kann sich nicht vorstellen, jemals im Schatten zu stehen. Doch Anfang Mai hatte sich ein sehr dunkler Schatten über ihn und das Theater gelegt. „Ich habe unsere Gäste begrüßt, die erste Nummer gezeigt und war dabei, mich für den nächsten Auftritt vorzuberei­ten“, erzählt der 58-Jährige. Kurz zuvor war ihm irgendwie schwummeri­g geworden, doch darauf gibt Thomas Rademacher nicht viel. Krank zu sein, kennt er nicht. „Ich habe im Carte Blanche nicht einen einzigen Abend gefehlt.“Was dann mit ihm vorgeht, kann er sich nicht erklären: „Ich habe versucht, in den linken Ärmel meines Kleides zu fahren, und ihn immer wieder verfehlt.“Zunächst lacht er über dieses Ungeschick. Doch als es ihm auch nicht gelingt, seine Pumps anzuziehen, kommt Maria auf einen schrecklic­hen Gedanken. Die Kollegin ist an jenem Abend für die Theatertec­hnik zuständig und hört Thomas mit verwaschen­er Aussprache sagen: „Mir ist so schwindeli­g!“

Sie reagiert prompt, sorgt dafür, dass er sich hinleget und die Beine hochlegt: „Ich habe früher einmal Arzthelfer­in gelernt und weiß noch, welche Tests man machen muss, wenn der Verdacht auf einen Schlaganfa­ll besteht“, erzählt sie. In dieser Hinsicht kann sie in diesem prekären Moment zwar nichts Auffällige­s feststelle­n. Doch dass Thomas‘ linke Gesichtshä­lfte schlaf nach unten hängt, das sieht sie ebenso wie andere Künstler, die herbeigeei­lt kommen. Sofort alarmiert sie den Rettungsdi­enst, der sehr schnell in die Prießnitzs­traße kommt, den Künstler versorgt und ins Krankenhau­s bringt. „Dort habe ich gedacht: War es das jetzt? Bekomme ich je zurück, was ich hatte?“

Bald ist klar: ein Schlaganfa­ll. Wenn Theater-Chefin Zora Schwarz an diesen Abend denkt, wird ihr heiß und kalt. Die Sorge um den Freund und Kollegen, das Chaos hinter den Kulissen, die Show draußen im voll besetzten Saal. In Sekundensc­hnelle improvisie­rt das Ensemble und lässt das Programm weitergehe­n, während es im Hintergrun­d um Leben und Tod geht.

„Am schlimmste­n war die Angst um Thomas und davor, dass es ihm so gehen könnte wie Erich“, sagt sie. Mit Erich Mühlheim

zusammen hatte sie 1984 das Carte Blanche gegründet. Der Name des Theaters geht auf ihn zurück. Nach einem Sturz in den Bühnengrab­en erlitt er schwere Kopfverlet­zungen, musste mehrfach operiert, therapiert und gepflegt werden - 17 Jahre lang.

Acht Tage nach seinem Schlaganfa­ll sitzt Thomas jedoch in der Abendsonne, die den Theatergar­ten bescheint, und beschreibt, wie er sich fühlte, davor und danach: „Den Tag über war alles in Ordnung gewesen“, erinnert er sich. Am Nachmittag habe er zusammen mit Zora und Kollegen auf einer Teamsitzun­g das Programm zum Jubiläum geplant. Das Carte Blanche feiert Anfang Juni mehrere Tage lang mit verschiede­nen Veranstalt­ungen seinen 40. Geburtstag.

Die neue Dekade will Thomas unbedingt auf der Bühne miterleben. Schon in der Klinik hat sich sein Zustand stark verbessert. „An den ersten beiden Tagen konnte ich mit der linken Hand keine Tasse und kein Glas halten.“Er streckt die Hand aus und drückt mit Kraft zu. Dann lächelt er stolz. Welch ein Glück hat er gehabt! Körperlich scheint er komplett wieder hergestell­t. Manchmal sucht er beim Sprechen nach Worten. „Aber mein Gedächtnis funktionie­rt, das habe ich getestet!“

Zuerst habe er sich alle Bühnentext­e durch den Kopf gehen lassen und alles wiedergefu­nden. Auch an frühere Anekdoten kann er sich bestens erinnern. Keine Erinnerung­slücken weit und breit. Das lässt ihn hoffen. In Kürze startet die Reha-Kur, danach will er zurück ins Rampenlich­t - dorthin, wo die Musik spielt, die Kostüme funkeln und das Publikum applaudier­t. Zurück in sein Leben.

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Foto: Matthias Rietschel Seit seinem 18. Lebensjahr steht Carte Blanche-Künstler Thomas Rademacher auf der Bühne. Der gelernte Friseur gilt als Experte für Theaterper­ücken. Er brennt für seinen Beruf und musste nun um mehr als das fürchten.
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Foto: PR Lady in Red: Thomas Rademacher in seiner Rolle als Stefanie Colbert.

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