Hit-Rausch nach Klangnarkose
Sting erklärt die Dresdner Messe erst mal lange zum Ruheraum, danach gibt es kein Halten mehr.
Wie gestrandet, so stehen sie da, die Instrumente eines Musik-Trios auf der riesigen Bühne in der Dresdner Messe. Davor wogt am Sonnabend ein Meer von Zuschauern, die nach den Absagen 2020 und 2021 sehnsüchtig warten auf ihren Mann von der Insel. Doch bevor dieser die Flaschenpost, seine „Message In A Bottle“, endlich ins Meer wirft, trommelt sich Schlagzeuger Chris Maas lautstark ein, greift Gitarrist Dominic Miller in die E-Gitarren-Saiten. Schließlich taucht sie auf, eine Lichtgestalt im engen weißen T-Shirt. Darunter erahnt man einen im Fitnessstudio gestählten Körper. Der inzwischen 72jährige Gordon Matthew Thomas Sumner alias Sting erscheint wie ein ewig junger Avatar seiner selbst. Der Beifall wird noch größer, als klar wird, dass sich diese Erscheinung noch immer von seiner eigenen, samtig-kraftvollen Stimme untermalen lässt. Als Geheimrezept für sein ungebrochenes Äußeres nannte die Stil-Ikone einmal trocken und ehrlich: Eitelkeit. Um den Sänger und Bassisten in voller Pracht erleben zu dürfen, verzichtet Sting auf ein Standmikrofon und nutzt für bessere Beweglichkeit ein Headset. Und als er sein Publikum damit auf Deutsch begrüßt, sind die Segel der Hoffnung auf ein großes Konzertereignis gesetzt. Man hätte das „SOS“bei „Message In A Bottle“aber lieber öfter mitsingen sollen. Denn danach ist erst mal lange Schluss mit dem Euphorie-Wellengang. Abgesehen vom Daunendecken-Ohrwurm „Fields of Gold“wird man eine volle Stunde lang beinahe brutal in Stings einsam klingendes Inselleben in der Musik-Gegenwart eingeführt.
Und als wüsste Sting um die bevorstehende Monotonie, reicht er auf der Bühne einen schwarzen Hut mit Liedern herum, damit es wenigstens in der Setliste Überraschungen gibt. Denn diese Songs klingen zwar allesamt nach Sting, wirken aber derart einschläfernd, dass man auf dem Polsterstuhl quasi im Ärmelkanal zu versinken droht. Selbst alte Schlaftabletten-Hymnen wie „When Angels Fall“klingen wie ein schwaches Echo aus einer goldenen Zeit, in der Sting-Refrains noch zum Mitsingen, wenigstens aber zum Fensterputzen, taugten. Es ist, als hätte sich Sting in den letzten Jahren in seiner Klangkapsel verbarrikadiert, um gegen die eigene Fähigkeit, Ohrwürmer zu produzieren, anzukämpfen.
Und man hat sehr viele Minuten Zeit, sich zu fragen, warum der vielfach preisgekrönte Brite im letzten Jahr in die begehrte Londoner Ivors Academy für erfolgreiche Lied-Komponisten aufgenommen wurde. Die Hut-Lieder können es jedenfalls nicht sein. Auf ein Lob des berühmten Beatle Paul McCartney sagte Sting: „Ich kann euch gar nicht sagen, wie viele Songs von Paul McCartney ich gerne geschrieben hätte.“Nun, dem kann man nur schläfrig zustimmen und sich fragen, warum es narkotisierende Alben, wie das aktuelle „The Bridge“, schaffen, auf hohen Chart-Wellen zu surfen. Wenigstens weiß man jetzt, warum Stuhlreihen aufgestellt wurden.
Zugutehalten muss man dem Briten trotz der Langeweile und bei exzellentem Sound in der Messe aber wenigstens das: Sting schwebt weiter in seinem eigenen Genre aus angedeuteter Pop-Harmonie, Klassik, Reggae-Einflüssen und jazzigem Experimentalismus. Trotzdem, nach gut einer Stunde hat Sting seine Alt-Hits mehr als nötig. Der sich mit „Englishman In New York“selbst vertonende Sänger muss den Zauberhut nun nicht mehr bemühen, um die Messe zum erlösenden Stehkonzert zu bewegen. So mancher braucht allerdings eine Weile, um die ungenutzten Beine, Hüften und Arme mit den Ohrwurm-Refrains zu synchronisieren. Aber spätestens mit „Every Breath You Take“und „So Lonely“ist die Messe zum überdachten Festivalgelände geworden. Und die vorwiegend mittelalte bis gut gereifte Zielgruppe nimmt ein unweigerliches Bad in der eigenen Jugend der 1980er und 1990er. Sting übt sich derweil in der Neuinterpretation eigener Songs wie „Walking On The Moon“. Ob es wirklich nötig war, sich mit dem 2019er-Album „My Songs“an den Klassikern zu vergreifen, hinterlässt mindestens ein Fragezeichen im Ohr. Einige detailliert ausgefeilte Lieder aus alten PoliceZeiten hätte man lieber im angestaubten Gold-Kästchen lassen sollen, anstatt sie beinahe wegzukomponieren.
„Roxanne“, die Retterin
Dresdner Musikfestspiele Die SZ berichtet vom Festival
Aber egal, die verlässlichste aller Frauen in Stings Leben – „Roxanne“– schafft es schließlich in der Zugabe, dass das Konzert die, beinahe rockige, Kurve kriegt. Die Zugabe wird vom Power-Trio nicht nur für Radiohörer abgespult, sondern in eine Endlos-Party-Version verlängert. Sting gibt in aller Körperlichkeit noch mal alles, und der größte Dresdner Rotlicht-Klub jubelt, tanzt und zelebriert den gemäßigten Exzess.
Schade nur, dass Sting weitgehend auf Ansagen verzichtet und somit keinerlei Einblicke in sein momentanes Befinden zulässt. Am eindrucksvollsten durchbrochen wird die weiße, körperbetonte Sting-„Mauer“mit dem finalen Lied „Fragile“. Hier gibt der Sänger an der Akustikgitarre mal für drei Minuten die Körperspannung auf und feiert seine eigene Zerbrechlichkeit. Zu kurz allerdings, um nicht daran zu glauben, dass auch ein 80-jähriger, gestählter Sting noch auf Welttournee gehen wird.