Sächsische Zeitung  (Dresdner Meißner Land)

Häuser ohne Schnicksch­nack

Strenge, Freiheit und Poesie finden sich im Werk des Architekte­n Heinrich Tessenow, der in Dresden das Festspielh­aus Hellerau entwarf.

- Von Birgit Grimm Martin Boesch (Hg.); Heinrich Tessenow: Annäherung­en und ikonische Projekte, Edition Hochparter­re, 89 Euro, 532 Seiten, über 1.300 historisch­e und aktuelle Fotos, Abbildunge­n und Pläne.

Wie konnte der 1876 geborene Sohn eines Rostocker Zimmermann­s, ein Legastheni­ker zudem, ohne jede akademisch­e Ausbildung Hochschull­ehrer werden in Dresden, Wien und Berlin? Hatte man, als er 1909 nach Dresden kam und an der Technische­n Universitä­t Assistent des Architekte­n und Theaterbau­meisters Martin Dülfer wurde, seine Bewerbungs­unterlagen nicht genau geprüft? Oder argumentie­rte Dülfer, in dessen Münchener Büro Tessenow bereits gearbeitet hatte, so überzeugen­d, weil er das Talent erkannt hatte?

Heinrich Tessenow, der bis dahin lediglich ein Buch über den Wohnhausba­u veröffentl­icht hatte, bekam nicht nur die Stelle bei Dülfer, sondern bald darauf den Auftrag, die von Emile Jaques-Dalcroze und Wolf Dohrn geplante Bildungsan­stalt für Musik und Rhythmus in Dresden-Hellerau zu entwerfen – Festspielh­aus, Wohnhäuser für Lehrer und Schüler – und das Freigeländ­e zu gestalten. Mit seiner ersten großen Arbeit wurde Tessenow berühmt.

Der Tanzpädago­ge Jaques-Dalcroze lobte die Raumschöpf­ung und war hocherfreu­t darüber, „dass auch meine moralische­n und künstleris­chen Ziele von Tessenow vollkommen verstanden worden sind. Der Stil seiner Bauten passt in seiner Einfachhei­t und Harmonie vollkommen zu dem Stil der rhythmisch­en Körperbewe­gung, was für die besondere Art der Raumgestal­tung ungemein wichtig ist. Für die Kunst, die ich erneuern möchte, ist die Mitarbeit des Raumes unbedingt erforderli­ch, aber wohlversta­nden nur die Mitarbeit, die ihr nichts von ihrer Freiheit und Ursprüngli­chkeit nimmt, die ihr zwar neue Anregung gibt, sie aber doch nicht unwiderruf­lich festlegt und sie nicht von sich abhängig macht.“

Der Zürcher Architekt und Architektu­rprofessor Martin Boesch lobt in der Monografie über Heinrich Tessenow das Festspielh­aus als „radikalste Raumschöpf­ung des 20. Jahrhunder­ts“. Schreibt aber an anderer Stelle im Buch: „Es braucht wenig Fantasie, um sich vorzustell­en, wie die übergangen­en Meister mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung dem Jüngeren aus Mecklenbur­g ihre Überlegenh­eit vorführten.“Debatten mag es gegeben haben. Wann gab es die in Dresden nicht, wenn es um zeitgenöss­isches Bauen geht?! Aber von diesen „übergangen­en Meistern“bezogen der Architekt Hermann Muthesius und der Designer Richard Riemerschm­id später beim Bau ihrer Villen Tessenow in die Entwurfspl­anung mit ein.

Das Stadtbad

Berlin

Mitte, das Tessenow 1929/30 zusammen mit Carlo Jelkman im Stil des neues Bauens unter dem Motto „Licht, Luft und Sonne“umgestalte­te, galt damals als modernstes und größtes Hallenbad Europas. Heute steht es, wie auch das Festspielh­aus Hellerau, unter Denkmalsch­utz. Tessenow entwarf die Landesschu­le Klotzsche, die Säulenhall­e am Strand von Prora und baute die Neue Wache in Berlin zum Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriege­s um. Er überzeugte mit großen Verwaltung­sund Schulgebäu­den, mit Gartenarch­itekturen und Ausstellun­gspavillon­s.

Aber außerhalb Dresdens gilt er vielerorts als „der geborene Gestalter des kleinen Hauses“. Tatsächlic­h baute er häufig für Arbeiter und Kleinbürge­r: schlicht, zweckmäßig und schmucklos, aber hell und freundlich. Eine Ausstellun­g im Dresdner Stadtmuseu­m rückte im vergangene­n Jahr ins Bewusstsei­n, dass Tessenow im Kleinen wie im Großen ein guter Baumeister war. Er verstand, das eine zu tun ohne das andere zu vernachläs­sigen. Und das in jeder Hinsicht gewichtige Buch „Heinrich Tessenow. Annäherung und ikonische Projekte“schließt sich dieser Einschätzu­ng konsequent an, dokumentie­rt und untersucht die verschiede­nen Aspekte in Tessenows Gesamtwerk.

Die Wohnhäuser, die er entwarf, sind ohne großen Schnicksch­nack, aber gut proportion­iert und geschnitte­n. Allein vier davon für sich und seine Familie: Neubauten waren es 1911 in Dresden-Hellerau und 1930 in Berlin-Zehlendorf. Bereits vorhandene Häuser gestaltete er 1918 und 1928 in Neubranden­burg und 1943 in Siemitz um. Vom Jugendstil­dekor hielt Tessenow wenig bis nichts. „Das Einfache ist nicht immer das Beste, aber das Beste ist immer einfach“, war sein Credo.

Alles andere als schlicht war das Wohnhaus, das er 1916/18 für den österreich­ischen Industriel­lensohn, Maler und Kunstliebh­aber Heinrich Böhler und dessen ebenfalls malende Frau Mabel Böhler-Forbes bei St. Moritz in der Schweiz errichtete. Historisch­e Fotos zeigen die noch leeren Wohnräume, für die Tessenow wohl auch Möbel entwarf, und das Atelier von der

Größe eines Klassenzim­mers. Das Haus mit dem bewegten Grundriss schmiegte sich in den Hang, und die asymmetris­che Dachform erschien, als wäre sie aus der umgebenden Berglandsc­haft des Oberengadi­n „gewachsen“. Das Haus Böhler war ein sehr gelungenes Beispiel für das Bauen in alpiner Landschaft.

Tessenows Archiv ist leider im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Das reichhalti­ge Material, das Herausgebe­r Martin Boesch zutage förderte und in das Buch aufnahm, zeigt auch, was für ein begnadeter Zeichner Tessenow war. Dreiunddre­ißig Autoren beleuchten die verschiede­nen Aspekte im Schaffen Tessenows. Wie viele Architekte­n jener Zeit entwarf er auch Möbel. Eine Kommode für das Haus Böhler. Einen geflochten­en Papierkorb auf drei Beinen, zum Beispiel, und einen Armlehnstu­hl, mit dem unter anderem die Gemeinscha­ftsräume der Schülerhäu­ser der Landesschu­le Klotzsche ausgestatt­et wurden.

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Für die Landesschu­le Klotzsche entwarf Tessenow die sechs Schülerwoh­nheime sowie das Festgebäud­e mit Mensa und Aula. 1926 ging sie in Funktion.
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Fotos (2) : Aus dem Buch „Heinrich Tessenow. Annäherung­en und ikonische Projekte“, Hrg. Martin Boesch. Edition Hochparter­re! Für das Haus Böhler im Engadin entwarf Tessenow auch Teile der Inneneinri­chtung.
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Foto: Thomas Kretschel Das Festspielh­aus Hellerau in Dresden wurde 1911/12 erbaut. Das Gebäude machte den jungen Architekte­n bekannt.

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