Sächsische Zeitung (Dresdner Meißner Land)
Häuser ohne Schnickschnack
Strenge, Freiheit und Poesie finden sich im Werk des Architekten Heinrich Tessenow, der in Dresden das Festspielhaus Hellerau entwarf.
Wie konnte der 1876 geborene Sohn eines Rostocker Zimmermanns, ein Legastheniker zudem, ohne jede akademische Ausbildung Hochschullehrer werden in Dresden, Wien und Berlin? Hatte man, als er 1909 nach Dresden kam und an der Technischen Universität Assistent des Architekten und Theaterbaumeisters Martin Dülfer wurde, seine Bewerbungsunterlagen nicht genau geprüft? Oder argumentierte Dülfer, in dessen Münchener Büro Tessenow bereits gearbeitet hatte, so überzeugend, weil er das Talent erkannt hatte?
Heinrich Tessenow, der bis dahin lediglich ein Buch über den Wohnhausbau veröffentlicht hatte, bekam nicht nur die Stelle bei Dülfer, sondern bald darauf den Auftrag, die von Emile Jaques-Dalcroze und Wolf Dohrn geplante Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus in Dresden-Hellerau zu entwerfen – Festspielhaus, Wohnhäuser für Lehrer und Schüler – und das Freigelände zu gestalten. Mit seiner ersten großen Arbeit wurde Tessenow berühmt.
Der Tanzpädagoge Jaques-Dalcroze lobte die Raumschöpfung und war hocherfreut darüber, „dass auch meine moralischen und künstlerischen Ziele von Tessenow vollkommen verstanden worden sind. Der Stil seiner Bauten passt in seiner Einfachheit und Harmonie vollkommen zu dem Stil der rhythmischen Körperbewegung, was für die besondere Art der Raumgestaltung ungemein wichtig ist. Für die Kunst, die ich erneuern möchte, ist die Mitarbeit des Raumes unbedingt erforderlich, aber wohlverstanden nur die Mitarbeit, die ihr nichts von ihrer Freiheit und Ursprünglichkeit nimmt, die ihr zwar neue Anregung gibt, sie aber doch nicht unwiderruflich festlegt und sie nicht von sich abhängig macht.“
Der Zürcher Architekt und Architekturprofessor Martin Boesch lobt in der Monografie über Heinrich Tessenow das Festspielhaus als „radikalste Raumschöpfung des 20. Jahrhunderts“. Schreibt aber an anderer Stelle im Buch: „Es braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, wie die übergangenen Meister mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung dem Jüngeren aus Mecklenburg ihre Überlegenheit vorführten.“Debatten mag es gegeben haben. Wann gab es die in Dresden nicht, wenn es um zeitgenössisches Bauen geht?! Aber von diesen „übergangenen Meistern“bezogen der Architekt Hermann Muthesius und der Designer Richard Riemerschmid später beim Bau ihrer Villen Tessenow in die Entwurfsplanung mit ein.
Das Stadtbad
Berlin
Mitte, das Tessenow 1929/30 zusammen mit Carlo Jelkman im Stil des neues Bauens unter dem Motto „Licht, Luft und Sonne“umgestaltete, galt damals als modernstes und größtes Hallenbad Europas. Heute steht es, wie auch das Festspielhaus Hellerau, unter Denkmalschutz. Tessenow entwarf die Landesschule Klotzsche, die Säulenhalle am Strand von Prora und baute die Neue Wache in Berlin zum Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges um. Er überzeugte mit großen Verwaltungsund Schulgebäuden, mit Gartenarchitekturen und Ausstellungspavillons.
Aber außerhalb Dresdens gilt er vielerorts als „der geborene Gestalter des kleinen Hauses“. Tatsächlich baute er häufig für Arbeiter und Kleinbürger: schlicht, zweckmäßig und schmucklos, aber hell und freundlich. Eine Ausstellung im Dresdner Stadtmuseum rückte im vergangenen Jahr ins Bewusstsein, dass Tessenow im Kleinen wie im Großen ein guter Baumeister war. Er verstand, das eine zu tun ohne das andere zu vernachlässigen. Und das in jeder Hinsicht gewichtige Buch „Heinrich Tessenow. Annäherung und ikonische Projekte“schließt sich dieser Einschätzung konsequent an, dokumentiert und untersucht die verschiedenen Aspekte in Tessenows Gesamtwerk.
Die Wohnhäuser, die er entwarf, sind ohne großen Schnickschnack, aber gut proportioniert und geschnitten. Allein vier davon für sich und seine Familie: Neubauten waren es 1911 in Dresden-Hellerau und 1930 in Berlin-Zehlendorf. Bereits vorhandene Häuser gestaltete er 1918 und 1928 in Neubrandenburg und 1943 in Siemitz um. Vom Jugendstildekor hielt Tessenow wenig bis nichts. „Das Einfache ist nicht immer das Beste, aber das Beste ist immer einfach“, war sein Credo.
Alles andere als schlicht war das Wohnhaus, das er 1916/18 für den österreichischen Industriellensohn, Maler und Kunstliebhaber Heinrich Böhler und dessen ebenfalls malende Frau Mabel Böhler-Forbes bei St. Moritz in der Schweiz errichtete. Historische Fotos zeigen die noch leeren Wohnräume, für die Tessenow wohl auch Möbel entwarf, und das Atelier von der
Größe eines Klassenzimmers. Das Haus mit dem bewegten Grundriss schmiegte sich in den Hang, und die asymmetrische Dachform erschien, als wäre sie aus der umgebenden Berglandschaft des Oberengadin „gewachsen“. Das Haus Böhler war ein sehr gelungenes Beispiel für das Bauen in alpiner Landschaft.
Tessenows Archiv ist leider im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Das reichhaltige Material, das Herausgeber Martin Boesch zutage förderte und in das Buch aufnahm, zeigt auch, was für ein begnadeter Zeichner Tessenow war. Dreiunddreißig Autoren beleuchten die verschiedenen Aspekte im Schaffen Tessenows. Wie viele Architekten jener Zeit entwarf er auch Möbel. Eine Kommode für das Haus Böhler. Einen geflochtenen Papierkorb auf drei Beinen, zum Beispiel, und einen Armlehnstuhl, mit dem unter anderem die Gemeinschaftsräume der Schülerhäuser der Landesschule Klotzsche ausgestattet wurden.