Sächsische Zeitung (Dresdner Meißner Land)
Entlang der alten DDR-Grenze
Die Natur und die Touristen haben sich die einstige Todeszone an der Ost-West-Grenze zurückerobert. Unterwegs in Franken mit Zeitzeugen, die Geschichten über Flucht, Sperrzonen und den Playboy erzählen.
Günter Wetzel wirkt wie ein ganz normaler Rentner: Poloshirt und blaue Weste, das graue Haar schütter. Er steht auf einer ganz normalen Wiese, in der Ferne die Fichten des Frankenwalds. „Wo ist nur die Zeit geblieben?“, sagt er. Denn als Wetzel vor knapp 45 Jahren das erste Mal hier stand, war nichts normal. Wetzel ist „der Ballonflüchtling“und die Wiese der Landeplatz. Zwei Filme gibt es inzwischen über seine waghalsige Flucht aus Thüringen in den Westen. Acht Personen auf einer zwei Quadratmeter kleinen Stahlplatte, zwei Kilometer in die Luft gehoben durch selbst zusammengenähte Stoffbahnen, die an zwölf Tragseilen hingen. Dass er hier auf der Wiese nahe der fränkischen Stadt Naila hart aufgeschlagen ist, war Zufall. „Wir konnten den Ballon nicht steuern – und plötzlich ging das Propangas aus“, sagt Wetzel.
Der heute 69-Jährige hat bis lange nach der Wende zurückgezogen von der Öffentlichkeit in Franken gelebt. Er schulte zum Kfz-Mechaniker-Meister um, machte den Pilotenschein. Nun will er reden. „Denn vieles wurde und wird falsch dargestellt“, sagt er. Die junge Generation solle die Wahrheit über die DDR erfahren, über diesen wichtigen Teil der Geschichte.
Den Weg zur Wahrheit weist ein Schild am Bahnhof von Naila: „Landeplatz Fluchtballon 1979 – 4 Kilometer.“Die Stadt hat am historischen Ort eine Litfaßsäule mit Fotos und Fakten aufgestellt. Höhe des Ballons 24 Meter. Distanz: 20 Kilometer – davon zwölf über DDR-Gebiet. „Natürlich wurden wir durch die Suchscheinwerfer gesehen“, sagt Günter Wetzel. Aber im sowjetischen Luftraum durften die Grenzer damals nicht ohne vorherige Genehmigung schießen.“Das habe er aber erst im Nachhinein aus seiner Stasi-Akte erfahren.
Nailas Bürgermeister Frank Stumpf erinnert sich noch, wie er als Kind sofort zur Landestelle geradelt sei. Heute ist sie für ihn auch eine willkommene Werbung. „Besonders zu Jubiläen steigt das Interesse von Touristen“, sagt er. Der Ballon sei 2017 saniert worden und soll ab Frühjahr 2025 in einem Neubau in Naila einen würdigen Ausstellungsplatz bekommen.
Das Städtchen liegt mitten im Frankenwald, einem 1.200 Kilometer großen Naturpark zwischen Hof, Kulmbach, Kronach und der Grenze zu Thüringen. Abseits vom Massentourismus wechseln sich bewaldete Hänge mit blühenden Wiesen und Tälern ab, in denen sich Bäche noch ihr natürliches Bett suchen dürfen. Um die 4.000 Kilometer ausgeschilderte Wanderwege soll es hier geben. „Vor der Wende kamen vor allem Westberliner her, weil wir die erste Wanderregion nach der Ostgrenze waren“, sagt Markus Franz, Chef von Frankenwald Tourismus. Jetzt seien es zunehmend Menschen, die neben der Natur auch die Spuren der deutsch-deutschen Teilung suchen.
Nirgends gelingt das so eindrucksvoll wie entlang des Grünen Bands. Im Schatten der unmenschlichen Grenzanlagen konnten sich viele selten gewordene Pflanzen und Tiere ansiedeln. Naturschützer erkannten den Wert sehr früh und kämpfen dafür, dass sich der 1.400 Kilometer lange Todesstreifen ungestört in eine neue Lebensader verwandeln darf. In einen Biotopverbund mitten durch ein Land, in dem jeder Quadratmeter für Wohnen, Verkehr oder Landwirtschaft begehrt ist.
Thorsten Hoyer, Chefredakteur des Wandermagazins, ist das gesamte Grüne Band abgelaufen – in 24 Tagen vom Dreiländereck Sachsen-Bayern-Tschechien über den Brocken bis an die Ostsee. „Wer das plant, muss schon leidensfähig sein“, sagt er. „Denn der Weg ist nicht markiert und zum Teil zugewachsen.“60 bis 70 Prozent der Strecke sei er über Lochbeton-Platten gelaufen – den ehemaligen Kolonnenweg, den die DDR-Grenzer mit ihren Trabi-Kübel für Streifgänge nutzten. Hoyer: „Auch Infrastruktur wie Gaststätten oder Pensionen gibt es kaum.“Manchmal habe er über Tage nur das Rufen der Bussarde gehört.
Für den Massentourismus ist das Grüne Band auch nicht gedacht. Zu groß wäre die Gefahr, dass es mit der Ruhe schnell vorbei ist. Vielmehr sollen Erlebnisräume für Wanderer und Radfahrer geschaffen werden. So wie der knapp elf Kilometer lange Rundweg „Grünes Band“, der im Juni öffnet. Startpunkt ist Mitwitz an der Grenze zwischen Franken und Thüringen.
André Maslo ist ganz in der Nähe, in der früheren Sperrzone, aufgewachsen. Heute leitet er die ökologische Bildungsstätte in Mitwitz und erklärt Gästen das Grüne Band. „Gerade war eine Delegation aus Korea da“, sagt er. Maslo zeigt auf ein Dickicht aus Kiefern, Pappeln und Birken links des Kolonnenwegs. „Dort war früher freie Sicht, jetzt erobert sich die Natur das Land zurück.“Der Laie mag daran nichts Besonderes erkennen. Doch Maslo weist auf einen abgestorbenen Baum. „Anders als im bewirtschafteten Wald hat dieser hier ein zweites Leben.“Er diene Pilzen und Insekten, Spechte könnten Bruthöhlen anlegen. Ein früher verrohrtes Bächlein breitet sich nun zu einer Auenlandschaft aus. Der Biber hat sie schon sichtbar angenommen. Irgendwo ziept eine Tannenmeise.
Die Biologin Liane Geidezis bekommt heute noch Gänsehaut, wenn sie über das Grüne Band läuft. „Ich habe regelmäßig Verwandte in der DDR besucht und weiß nur zu gut, wie schlimm die Kontrollen an der Grenze waren.“Im BUND setzt sie sich dafür ein, dass der Korridor an der früheren innerdeutschen Grenze von allen Bundesländern als Nationales Naturmonument anerkannt wird – auch von den westlichen. Damit genießt es besonderen Schutz, darf zum Beispiel nicht mehr extensiv bewirtschaftet werden. „Für 82 Prozent des Grünen Bandes ist das bereits gelungen“, sagt Geidezhis. „Die 42 Kilometer an der sächsischen Grenze sollen im Spätsommer folgen.“Seit Ende vorigen Jahres steht das Grüne Band auch auf der deutschen Vorschlagsliste für ein neues Unesco-Weltnaturerbe. „Es handelt sich nicht nur um das längste durchgängige Schutzgebiet Europas“, sagt die Biologin, die zum Fischotter in der Oberlausitz promoviert hat. „Das Grüne Band ist auch ein Symbol der friedlichen Wiedervereinigung. Es sollte deshalb gleichzeitig Weltkulturerbe werden.“
Wie die Grenze zu DDR-Zeiten ausgesehen hat, lässt sich heute noch eindrucksvoll im fränkischen Mödlareuth besichtigen. Das zwischen Thüringen und Bayern geteilte Dorf war Blaupause für den ZDFDreiteiler „Tannbach“. Heiko Ultsch führt Besucher durch das Deutsch-Deutsche Museum mit einem Außengelände am Originalplatz. Ultsch erzählt von Sperrzonen, Schutzstreifen, Spurensicherungsstreifen, Kfz-Sperrgraben, Metallgitterzäunen, Hundelaufanlagen und Minen, bevor die eigentliche Mauer im Dorf kam. Ein Teil davon steht noch. Und er demonstriert, wie Selbstschussanlagen Flüchtende zersiebt haben, die dann oft verblutet seien.
Günter Wetzel hatte Glück mit seinem Ballon. „Heute würde ich da nicht mehr einsteigen“, sagt er. „Aber ich habe die Flucht aus der DDR nie bereut.“Wetzel hält inzwischen Vorträge vor Schülern über seine Geschichte. Klischeefragen, ob er denn auch die Einheit Deutschlands für geglückt halte, mag er nicht. Stattdessen pflegt er privat die Wiedervereinigung – am Grenzerstammtisch. Alle zwei Monate treffen sich dabei Grenzer aus Ost und West. „Aber nur Wehrdienstleistende aus der DDR, keine Berufssoldaten“, betont StammtischVorsitzender Otto Oeder. Der 79-Jährige war Grenzpolizist auf bayerischer Seite und ist heute mit Günter Wenzel befreundet. „Ich hatte nach der Ballonnacht Dienst“, sagt Oeder. Seine Aufgabe sei es gewesen, Flüchtlinge zu verhören und festzustellen, ob sie keine Spione sind. Oeder kann stundenlang über seine Erlebnisse an der Grenze erzählen, oft hätten ihn ja nur hundert Meter von den Soldaten auf der anderen Seite getrennt. Eine Episode gibt er zu gern zum Besten: Wie er absichtlich auffällig im Playboy gelesen und gewartet habe, bis von drüben ein Wisch-Zeichen kommt: Weiterblättern!
Günter Wetzel wirkt heute, fast 45 Jahre später, wie ein ganz normaler Rentner. Unzählige Male ist er wieder auf der Wiese bei Naila gewesen, seinem Landeplatz. Auf der Webseite Ballonflucht.de hat er die Details seiner Flucht festgehalten. Inzwischen lebt er wieder im Osten, in Chemnitz. „Eine neue Liebe hat mich dahin verschlagen. Gefühlt aber bin ich Franke geblieben“, sagt er. Zeitzeugen wie Günter Wetzel werden weniger. Das Grüne Band bleibt.