Sächsische Zeitung (Dresdner Meißner Land)
Der soziale Friede ist gefährdet
Was durch Hochrüstung auf der Strecke zu bleiben droht, ist ein generöser Sozialstaat, wie es Deutschland lange war.
Armut dringt seit geraumer Zeit stärker in die Mitte unserer Gesellschaft vor, während sich der Reichtum immer mehr bei wenigen Familien konzentriert. Einerseits hat die Armutsbetroffenheit hierzulande im Jahr 2022 einen Rekordstand seit der Vereinigung erreicht: 14,2 Millionen Menschen (16,8 Prozent der Bevölkerung) hatten weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung, was für Alleinstehende 1.186 Euro im Monat und 1.779 Euro für ein kinderloses Paar entsprach. Die höchsten Armutsrisiken wiesen Erwerbslose mit 49,7 Prozent, Alleinerziehende mit 43,2 Prozent und Nichtdeutsche mit 35,3 Prozent auf. Kinder und Jugendliche waren mit 21,8 Prozent stärker betroffen denn je. Zudem nimmt das Armutsrisiko der Senioren seit geraumer Zeit am stärksten zu.
Andererseits befinden sich die großen Privatvermögen in wenigen Händen: Die fünf reichsten deutschen Unternehmerfamilien (Albrecht/Heister, Böhringer, Kühne, Quandt/Klatten und Schwarz) besitzen zusammen etwa 250 Milliarden Euro und damit mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, das heißt, weit über 40 Millionen Menschen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung haben gar kein nennenswertes Vermögen. Über 30 Millionen Menschen leben – streng genommen – von der Hand in den Mund, weil ihnen Rücklagen fehlen, die man spätestens in einer finanziellen Krisensituation braucht, und sind im Grunde nur eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt.
Aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, der bestehenden Eigentumsverhältnisse und der ungerechten Verteilungsmechanismen werden die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher. Tagtäglich findet Umverteilung von unten – den hart Arbeitenden – nach oben – zu den viel Besitzenden – statt: Unternehmensprofite, Veräußerungs- und Kursgewinne der Aktionäre, Dividenden, Zinsen sowie Miet- und Pachterlöse von Immobilienkonzernen fließen überwiegend in die Taschen materiell Bessergestellter, sind aber normalerweise von Menschen erarbeitet worden, die erheblich weniger Geld haben, oft nicht einmal genug, um in Würde leben zu können.
Der außen-, energie- und militärpolitischen Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz zu Beginn des Ukrainekrieges ausgerufen hat, scheint mit leichter Verzögerung eine wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Zeitenwende zu folgen. Um mehr für Rüstung ausgeben zu können,
„spart“die Bundesregierung primär beim Wohlfahrtsstaat, in der Arbeitsmarktpolitik und im Bildungsbereich.
Ein markantes Beispiel dafür, welche Prioritäten die Regierungsparteien trotz einer wachsenden Armut setzten, bot die Kindergrundsicherung. Dass von diesem familienund sozialpolitischen Renommierprojekt am Ende nur eine Reformruine übrig blieb, war das Ergebnis einer falschen Prioritätensetzung. Vorrang gegenüber der wirksamen Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut hatte offenbar die weitere Aufrüstung.
Nicht zuletzt aufgrund drastisch erhöhter Rüstungsausgaben spitzten sich die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe zu, was sich anlässlich der Haushaltsberatungen für das Jahr 2024 zeigte. Da sich die FDP und ihr Vorsitzender sowohl weigerten, die Schuldenbremse noch einmal auszusetzen, wie auch, Steuern für besonders Wohlhabende zu erhöhen, wurde auf Vorschlag des Bundesfinanzministers beschlossen, zahlreiche Kürzungen in fast allen Einzeletats vorzunehmen. Besonders einschneidend waren die Abstriche im Bereich der Bildung sowie im Bereich von Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Was durch Hochrüstung auf der Strecke zu bleiben droht, ist ein generöser Sozialstaat, wie ihn die Bundesrepublik seit der Rekonstruktionsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang kannte. Wenn man die ohnehin sehr hohen Rüstungsausgaben noch mehr anhebt, das Personal der Bundeswehr wie geplant aufstockt und eine Kampfbrigade im Baltikum stationiert, wird es kaum möglich sein, die enormen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen die Koalitionsregierung steht: Sie muss ihren Beitrag zur Lösung der Klimakrise leisten, die Modernisierung der Infrastruktur unseres Landes vorantreiben und dessen soziale Probleme (Prekarisierung der Lohnarbeit, Verarmung eines wachsenden Teils der Bevölkerung, Wohnungsnot und Mietenexplosion) lösen. Umgekehrt dürfte es künftig eher noch mehr Abstriche von dem ohnehin wenig anspruchsvollen Programm der Ampelkoalition geben.
Der soziale Friede ist gefährdet, wenn aufgrund des größten Aufrüstungsprogramms seit 1945 das Geld für lebenswichtige Aufgaben des Staates fehlt. Da alle im Bundestag in Fraktionsstärke vertretenen Parteien (SPD, CDU/CSU, AfD und FDP) die Bundeswehr besser ausstatten wollen als bisher, künftig Unsummen in die Rüstung stecken und den Militärhaushalt bis zum Jahr 2028 drastisch erhöhen wollen, wird das Geld woanders zwangsläufig knapp – Geld, das dringend benötigt wird, um soziale Probleme zu lösen, die während der Krisenjahre entstanden sind und sich anschließend noch verschärft haben, beispielsweise die Verelendung im Obdachlosenmilieu.
Die sozioökonomische Ungleichheit ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die politische Kultur des Landes und sein demokratisches Repräsentativsystem, wie die hohe Wahlabstinenz einkommensschwacher Bevölkerungsschichten, das fragwürdige Stimmverhalten von Abstiegsund Existenzsorgen geplagter Angehöriger der Mittelschicht sowie der enorme Lobbyeinfluss sehr reicher Bürger auf parlamentarische Entscheidungen belegen. In einer für die Bevölkerung schwer durchschaubaren Krisen- bzw. Umbruchsituation wenden sich viele Menschen von „Maß und Mitte“, wie Konservative ihr politisches Idealziel nennen, den etablierten Parteien und der parlamentarischen Demokratie ab, weil diese ihre sozialen Probleme nicht gelöst und ihre Interessen gar nicht oder nur mangelhaft vertreten haben.
Will man den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewahren, so heißt dies weder, dass sich Klassengegensätze in Luft aufgelöst haben, noch dass auf die Austragung von Interessenskonflikten verzichtet werden soll. Es geht beim sozialen Zusammenhalt vielmehr – wie bei der Solidarität – um einen Grundkonsens, der beinhaltet, dass man in einer exogenen, das heißt außerhalb des eigenen Landes oder politischen Einflussbereichs entstandenen Krisensituation wie einer Pandemie die Gesamtgesellschaft im Auge behält, also nicht chaotische oder anarchische Zustände herbeisehnt. Um dem Zerfall unserer Gesellschaft vorzubeugen oder Einhalt zu gebieten, muss alles vermieden werden, was die sozioökonomische Ungleichheit erhöht und die Klassenspaltung zementiert, in denen sich diese materialisiert. Kanzler-Appelle zum „Unterhaken“, „Zusammenstehen“oder „Zusammenhalten“, unterlegt von der Hymne „You’ll never walk alone“, die Fans aus mehreren Fußballstadien kennen, fruchten da wenig. Sie können auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jüngsten Krisen das Land erschüttert und seine Bewohner durchgerüttelt haben. Durch die rasche Aufeinanderfolge und die Kumulation der Krisenerscheinungen fühlen sich besonders Menschen überfordert, deren materielle Situation prekär ist.
Nötig ist eine Rückverteilung des Reichtums von oben nach unten durch eine andere Steuerpolitik, eine Stärkung der öffentlichen Daseins- und Gesundheitsvorsorge sowie ein Ausbau der sozialen, Bildungsund Betreuungsinfrastruktur. Wenn die politischen Entscheidungsträger, wie sie zu betonen nicht müde werden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken wollen, muss ihre Politik erkennbar dazu beitragen, die Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen. Es gibt einen solidarischen Weg aus den jüngsten Krisen: Durch mehr öffentliche Investitionen kann die Gesellschaft sogar im Falle einer schweren Krise wie der Pandemie funktionsfähig bleiben, die damit verbundenen Probleme bewältigen und ihre besonders gefährdeten Mitglieder schützen.
Nötig ist eine Rückverteilung des Reichtums von oben nach unten.